Der Jaudenstein (Augenstein)
Bei dem kleinen Dorf Schlitters nahe der Ausmündung des Zillertales in das Unterinntal liegt links am Wege nach Fügen ein Gebirgsvorsprung mit dem hochragenden, aussichtsreichen Kellerjoch, worauf eine dem Erlöser geweihte Kapelle steht. Der in das Tal gedrängt vorspringende, düstere, zerklüftete und nur spärlich mit Fichten bewachsene Hügel heißt der Jaudenstein, in dortiger Gegend dialektisch "Augnschtoan", und an ihm haftet eine unheimliche Sage.
Drunten an der Talstraße liegt der Weiler Gagering, bestehend aus fünf größeren Bauernhöfen und zwei Kleinhäuslein. Eines der letzteren steht vorderwärts am Waldsaume, der Fußpfad nach Fügen führt nahebei vorüber. In diesem "Waldhäusl", so wird es insgemein genannt, lebte vor vielen Jahren ein fleißiger Bergknappe mit einer braven, jungen Frau in zufriedener und glücklicher Ehe. Der Bergmann stand in guter Löhnung beim Werk des ehedem sehr silberreichen Bergwerkes Ringenwechsel und Falkenstein. An einem Herbstmorgen gab die Frau, die guter Hoffnung war, ihrem Mann das Geleite nach dem Ringenwechsel und fühlte ihr Herz von einer schweren Ahnung bedrückt, daher sie von ihrem Manne sehr schmerzlich bewegt Abschied nahm und ihn zu fleißigem Gebet ermahnte, als sie sich am Jaudenstein, an dem der Bergpfad zur Knappei emporführte, unter Tränen von ihm trennte. Er schob ihr ungewöhnliches Bangen auf ihren Zustand und tröstete sie. Nach Hause zurückgekehrt, wurden ihre Gedanken in der Tat wieder heiterer, sie betete abends ihren Rosenkranz und schlief im Gebet für ihren Mann ein, den sie schon am nächsten Abend wieder zu sehen hoffte. Dieser Abend kam, aber der junge Bergmann kam nicht. Oft schaute die Frau auf den Weg hinaus und nach dem Jaudenstein, den schon aschgraues Nebelgewölk umhing und der Flor der Dämmerung; die Luft wehte kühl und schaurig. Weinend und zagend harrte die Arme lange, lange und setzte sich endlich auf die Ofenbank; da riß ein Anklopfen sie aus ihrem Hinbrüten. Freudig fuhr sie empor, glaubend, ihr Mann sei zurückgekehrt, freudig öffnete sie - o Schreck -, da war's ein anderer, ein Arbeitsgenosse, seine Miene ernst und kummervoll. Er kündete mit teilnehmden Worten ihr an, daß ein abstürzender Fels im Schacht ihren Mann erschlagen habe, und mit einem Schreckensschrei brach das arme Weib zusammen. Am andern Tage lag sie in Wehen und gebar unter unermeßlichen Schmerzen ein Kind. Eine Freundin pflegte treu die Unglückliche, und sie erholte sich so gut es eben ging. Ihre erste Bitte an die Freundin war, nach Fügen zum Geistlichen zu gehen, daß er komme und sie aufsegne; denn der Volksglaube will, daß dieses Aufsegnen, nach welchem eine Wöchnerin wieder an ihre Geschäfte gehen darf, nicht über den vierzehnten Tag nach der Niederkunft hinaus verschoben werde. Vom Ave-Maria-Läuten abends bis zum Ave-Maria-Läuten am Morgen darf keine nicht aufgesegnete Wöchnerin mit ihrem Kinde oder ohne dasselbe aus dem Hause treten, sonst hat jeder finstere Zauber Gewalt über sie. Einige wagen es selbst bei Tag nicht, denn es könnte ein Unglück passieren. Aber der Wärterin begegnete eine Verhinderung, und sie kam nicht zum Geistlichen; die letzte Woche ging schon zu Ende. Da bat die Wöchnerin die Hebamme hoch und teuer, den geistlichen Herrn heraufzubitten. Diese versprach es und ging, und es kam der Sonntag, aber weder kam die Hebamme wieder noch kam der Seelsorger. Da entschloß sich die Frau, mit ihrem Kinde selbst nach Fügen zu gehen; sie kleidete sich und ihr Kindlein festlich an, versah sich mit allem Nötigen, wartete aber stets noch und sah nach dem Wege, ob nicht der Ersehnte komme. Schon neigte sich der Nachmittag dem Abend zu - und niemand kam. Jetzt segnete sie sich und ihr Kind, verschloß ihr Haus und ging. Kühl und frostig wehte der Herbstwind, ein Rabe, ein Unglücksvogel, flog über den Weg und setzte sich auf einen Zaun, an dem die Frau vorbei mußte. Sie fürchtete sich vor dem Unglückspropheten, sie machte einen weiten Umgang über einen Fußpfad, der am Jaudenstein vorbeiführt, darüber sank der Abend vollends nieder.
Dort ragte im herbstlich frühen Nebeldämmer der Kirchturm von Fügen drüben, und - jetzt erklang sein abendliches Avegeläute. Vorbei war der Segenstag! Ein Aufschrei des Schmerzes! Die Glocke schnitt der Armen durchs Herz - sie kehrte um. Da erblickte sie hinter sich die Hebamme; hierher war diese gekommen, sie zur Kirche zu begleiten - sie nahte ihr -, aber nein - das war ihre Wehmutter nicht - das war ein Weib mit kaltem stechendem Blick, das lachte ihr laut und höhnisch entgegen und rief: "Fliehst du vor der Glocke? Ei, so flüchte zu mir", und das Weib umfaßte die Ergrausende, und ein Fels im Jaudenstein spaltete sich, und dort zog jenes höllische Weib, eine Stampa, die Unselige samt ihrem Kinde hinein, und der Felsen schloß sich wieder und für immer. Die Hebamme hatte treulich ihren Auftrag ausgerichtet und den Geistlichen vermocht, am vierzenten Tage nach Gagering in das Waldhäuschen zu gehen, um die Witwe aufzusegnen. Er könne aber erst gegen Abend kommen, weil Sonntag sei, trug er der Hebamme auf, der Wöchnerin zu sagen. Aber da nahm eine andere Frau in Kindesnöten letztere in Anspruch, und sie konnte ebenfalls erst gegen Abend nach Gagering kommen. Wie der Seelsorger an das Waldhäuschen kam, fand er dasselbe verschlossen. Die Witwe hatte es bereits verlassen.
Von ferne nahte nun die Hebamme; sie sah die fremde Weibsgestalt, sie
sah die Unglückliche von weitem. Ehe sie nahe kam, war alles geschehen.
Sie erschrak darob so sehr, daß sie irrsinnig wurde und blieb. Der
Jaudenstein aber blieb von jener Zeit an verrufen. Man will nächtlicherweile
aus seinem Schöße bald eine liebliche Musik, bald schmerzliches
Ächzen und Geheul vernommen haben. Letzterer Umstand bestärkte
einst die Meinung, daß im Jaudenstein drinnen die gefürchtete
Zillertalersche Nachtwuon wohne, die seit uralter Zeit in den hintersten
Talbezirken soviel Unheil gestiftet und auch die arme Knappenfrau und
ihr Kind in ihr finsteres Reich gezogen habe.