Stadt Kastelruth
Der ansehnliche Pfarrort Kastelruth, in romanischer Sprache Ca-stelrotto,
uralt und römischen Ursprungs, war einst mehr als ein Dorf, es war
eine herrliche, große, stattliche Stadt, voll reicher Bewohner,
voll Wohlleben und Üppigkeit. In diese Stadt kam einst ein alter,
armer Bettler und bat um gastliche Aufnahme, ohne Lohn, um Gottes willen,
nur für die nächste Nacht. Aber überall ward er vor den
Türen abgewiesen und mit Hohnworten verfolgt. Als der Arme schon
alle Straßen durchwandert hatte und schon durch das Tor hinausgeschritten
war, fand er in einem kleinen, bescheidenen Häuschen doch noch Aufnahme
und Nachtlager. Dort bittet der Fremdling nur um ein Gefäß
mit Wasser, und als er es erhalten hat, gießt er es zum Fenster
hinaus. Verwundert blicken die Hausgenossen auf den Fremden, der voll
tiefen Ernstes dasteht, wie ein Engel der Offenbarung, der die Schale
des Zornes ausgießt. Und so war es. Jene Schale war eine Schale
des Zornes, denn draußen rauschte es wie ein Gießbach, donnerte
es wie ein Wasserfall, strömte Flut auf Flut im wachsenden Gusse
nieder wie ein Wolkenbruch - alles aus einer kleinen Schale, und Kastelruth
ist gewesen und nichts mehr von ihm übriggeblieben als das kleine
Häuschen vor dem Tor. Der Herr selbst war es gewesen, der Herzen
und Nieren prüft, der die Herzenshärtigkeit der Kastelruther
erkannt und über sie und ihren Ort das strenge Strafgericht verhängte.
Langsam und allmählich baute sich der spätere Ort wieder an,
aber das Gottesgericht durch Überflutung haben die Kastelruther nie
vergessen.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 370.