Die keusche Nonne
Im ehemaligen Kloster Sonnenburg, bei St. Lorenz im obern Pustertale gelegen, welches früher eine stattliche Burg war, aber von seinem Besitzer, Grafen von Thurn, der Heiligen Jungfrau zu einem Ordensstift für Jungfrauen nach der Regel des heiligen Benediktus gewidmet wurde, begab es sich, daß eine Nonne durch Verleumdung in den Verdacht gebracht ward, das Keuschheitsgelübde gebrochen zu haben. Man hielt über sie ein strenges Strafgericht und warf sie lebend über die Ringmauer in einen Felsenabgrund. Allein plötzlich breitete eine große Birke ihr Äste unter ihr, der Fallenden, aus, und dies Zeichen himmlischen Schutzes erschreckte ihre Richterinnen, welche nun auch in das Verlangen der Nonne willigten, nicht wieder ins Kloster einzutreten, sondern als Einsiedlerin in einer nahe Felsenhöhle zu leben.
Diesen Vorsatz führte die keusche Nonne aus, bis sie eines frühen
Todes verblich. Aber auch jener Volvold von Thurn, der Klostergründer,
hat als Büßer in einer Einsiedlerklause nahe bei seinem Kloster
gelebt, welches nach seiner zu Ende des vorigen Jahrhunderts erfolgten
Aufhebung in Privathände gelangte und bald in Trümmer fiel.
Diese Trümmer sind jetzt eine unheimliche, gemiedene Stätte.
Niemand läßt sich dort gerne sehen, denn es geht die Sage,
daß zur Nachtzeit der Teufel im Klosterhofe auf einem großen
Steine sitze und sich von Nonnengeistern anbeten lasse, die einst ein
ruchloses Leben geführt haben sollen.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 323.