Das Kreuz in Kauns
Eines Morgens ging ein Jäger, dessen Haus im Kaunser Tale stand, auf die Jagd und stieg am rechten Ufer des Faggenbaches bis in die Nähe von Kauns. Mehrere Male stellte sich ihm Wild und Raubgeflügel zum Schuß, aber sooft er schoß, fehlte er, so daß er endlich grantig wurde und fürchterlich zu fluchen begann und ausrief: "Da muß der Teufel helfen!"
Plötzlich stand ein finsterer Schütze mit roter Hahnenfeder auf dem Hute dicht neben ihm und fragte: "Was sagst d'? Kann ich dir helfen?"
"Mach, daß ich was treff!" antwortete der Jäger.
"Wenn's weiter nix ist! Das kann ich", sprach jener. "Wenn du tust, was ich dir sage, so fehlst du nimmer. Lad frisch deinen Stutzen, stell dich hierher, schau dort nach dem alten Holz [der Bockfüßler deutete dabei halb abgewandt auf ein hohes Kruzifix, das eine Strecke tiefer, am Wege von Kauns nach dem nahen Prutz, stand] und hab acht, wenn es in der Wallfahrtskirche Kaltenbrunn drinnen zur Wandlung bimmelt, dann schieß dem dort in die Seite. Zum Überfluß will ich mich nach der Wallfahrtskirche begeben, vor die Kirchtür stellen und dir mit dem Hute zuwinken, wenn es Zeit ist, abzudrücken. Aber treffen mußt du die Seitenwunde, sonst ist's gefehlt."
Besagtes Kruzifix, Dreinageltypus, A. 16. Jh.
(Vgl. DEHIO-Tirol, S. 402),
in der Schranz-Kapelle Hl. Kreuz, Kauns
zusätzlich zur Seitenwunde ist ein Einschußloch gut sichtbar
© Christoph Praxmarer, 4. Juli 2004
von Christoph Praxmarer freundlicherweise für SAGEN.at
zur Verfügung gestellt
Der Jäger folgte dem Rate des Bösen, er lud, er stellte sich
an, er schaute sich um, jener stand schon an der Kirchentür von Kaltenbrunn,
obgleich dahin fast eine Stunde Wegs war. Und alsbald schwenkte der Böse
dreimal den Hut, der Jäger zielte, aber er zitterte dabei, er schoß
und traf die Seitenwunde nicht, die Kugel schlug einen Zoll tiefer in
das Holzbild, und aus dem Loch flössen drei Blutstropfen hervor -
von Kaltenbrunn her scholl es wie Hohngelächter, und über den
sinnbetörten Jäger huschte ein Lämmergeier kreisend hin.
Drinnen im Kaunser Tale aber begann die Sturmglocke zu läuten, und
es schrie: "Feuer! Feuer!" Das Haus, welches brannte, war des
Jägers Haus, und es brannte bis zum Grunde nieder. In einer Kapelle,
kaum eine Viertelstunde außer dem Dorfe Kauns, steht jetzt jenes
Christusbild hochverehrt. Unter der Seitenwunde erblickt man noch die
Kugelspur, sieht man noch die drei Blutstropfen, und ein Wandgemälde
versinnbildlicht noch immer die Sage.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 225.