Die Lindenjungfrau
Hoch über dem Stallentale in der Nähe von Stans, unmittelbar
unter dem Vomper Loch, erhebt sich die Wallfahrtskirche St. Georgenberg,
ein Benediktiner-Priorat. Auch dieses ist von Legenden und Sagen umwoben.
Zu Aibling in Bayern lebte ein Ritter namens Rathold, den ein frommer
Hang zur Einsamkeit unwiderstehlich zog. Er verließ heimlich die
Seinen und gründete über dem Stallentale eine Einsiedelei, da
er zu solcher den geeigneten Ort in einer natürlichen Felsenhöhle
fand, vor welcher eine starke Linde schattete. Der Ort gefiel ihm so wohl,
daß er gedachte, eine Kapelle zu errichten; er zog wieder aus, besuchte
viele Wallfahrtsorte und erwarb ein schönes Bildnis der Heiligen
Jungfrau, welches er, zurückgekehrt, unter seiner Linde zur Verehrung
aufstellte. Rathold hatte einen Bruder, welcher Ubald hieß; der
war gleichen Sinnes mit ihm, und da er einst im Gebirge jagte und seinen
Bruder fand, beschloß auch er, sich dem Einsiedlerleben zu ergeben,
und beide Brüder unternahmen nun den Bau einer Kapelle oder einer
klösterlichen Einsiedelei. Zu diesem Behufe suchten sie eine geräumige
Stelle ober Stans auf; aber alles Baumaterial, das dort hingeschafft wurde,
verschwand, und bald gewahrten die Brüder, daß Vögel kamen,
die sogar die Späne forttrugen. Die Brüder folgten ihnen nach
und entdeckten, daß die Vögel die Späne hinauf auf jene
schauerlich schroffe Felsenhöhe getragen hatten, die der berühmte
Georgenberg geworden ist. Hierher wurde nun das Kirchlein und ein Klösterlein
erbaut, die Heilige Jungfrau von der Linde dahin übergetragen und
nach dem Wunsch des Stifters zu Ehren des heiligen Ritters Georg eingeweiht,
weil dieser auch der Patron der Pfarrkirche von Aibling, der Heimat Ratholds,
war und hochverehrt wird. Einst las ein Priester zu St. Georgenberg die
heilige Messe, da überkam ihn plötzlich während der Wandlung
ein Zweifel, ob der Wein im Kelche wirklich das wahre Blut Christi sei;
darauf erglühte alsbald der Kelch in seiner Hand, und das heilige
Blut wallte wie siedend auf. Dieses ist dann, nachdem der Priester seine
sündigen Gedanken gebeichtet, gebüßt und Entsühnung
empfangen hatte, in einem Kristallglase heilig aufbewahrt worden und wird
noch als ein Wunderzeichen vom gläubigen Volke verehrt. Nicht minder
ist die nicht selten an Kranken Wunder wirkende Heilige Jungfrau von der
Linde unter dem Namen der Lindenfrau weit und breit bekannt. Die Baulichkeiten
wurden nach und nach vergrößert, und für die Unterkunft
der Wallfahrer ist nun bestens gesorgt, und als eine der schönsten
Zierden der Gegend blickt St. Georgenberg durch das Stallental hernieder
auf das Inntal, und jedem Besucher wird der erhabene Eindruck unvergeßlich
bleiben.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 85