Der mähende Geist
In den Wiesen bei Stans wurde zu einer Zeit eine Frau erblickt, welche verstorben war und die jetzt mit einer Sense erschien, mit der sie fort und fort auf der Wiese ihres Nachbarn, welche an die ihr einst eigen gewesene Wiese grenzte, Gras mähte. Einige Nachbarsleute sahen die Frau, erkannten sie und sagten es dem Nachbarn an, dem die Wiese gehörte. Er ging nun selbst mit hinaus, sah die gespenstige Mäherin mit eigenen Augen und rief ihr zu: "Hör auf z'mahn! I schenk' d'r s'!" Aber sie mähte immer und immer fort. Nun gingen die Nachbarn nach Hause und zeigten diese Mäherin-Erscheinung dem geistlichen Herrn an, und dieser begab sich, da er in dieser Sache nicht allein vorschreiten wollte, zum nahen Benediktinerstift Fiecht hinauf und berichtete dem hochwürdigen Abt daselbst die Erscheinung. Dieser verfügte sich nun selbst an Ort und Stelle, um einen Versuch der Erlösung zu machen, und besprach den Geist in Gegenwart des Geistlichen und der beiden Kinder, welche jene Frau, eine Witwe, zurückgelassen hatte, und des Wiesennachbarn. Da begann der Geist zu reden und sagte: "So viele Jahre lang, als ich heimlich auf meines Nachbarn Wiese gemäht habe, so viele Jahre lang soll er auf meinem Gute mähen." Die Tochter der Witwe fiel in Ohnmacht und mußte von ihnen getragen werden, der Sohn aber sprach zum Nachbar: "Hat unsere Mutter Unrecht getan, so hat sie es aus unrechter Liebe zu uns, ihren Kindern, getan. Nehmt und behaltet Ihr diese Wiese ganz, so wird ihr Wille erfüllt, das Unrecht gut gemacht und der arme Geist erlöset sein."
"Amen! So geschehe es," sprach der Abt von Fiecht, schlug gegen
die Mähende das Zeichen des heiligen Kreuzes, und alsbald verschwand
sie und ward nicht wieder gesehen.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 87