PILATUS IN TIROL

Die Verwandlung eines menschlichen Übeltäters in einen Spukgeist in Tiergestalt ist ein tiefmythischer und Tirol vorzugsweise eigener Sagenzug. Bekannt ist die Schweizer Sage, daß der Geist des Landpflegers Pilatus, nachdem er im Exil verstorben, in den See des nach ihm benannten schroffen und zackigen Pilatusberges gebannt worden sei, in welchen er sich als Selbstmörder gestürzt haben soll. Aber die Sage von einer Stierverwandlung desselben begegnet uns in der Schweiz nicht. Anders in Tirol. In der Gegend bei Kufstein, im Tale Thiersee, das vom Thierberg, gegen Westen in drei Bezirke abgeteilt, sich hinzieht, wo ein wirklicher See dieses Namens liegt, der auch den Namen Schreckensee führt (wie eigentümlich klingen schon diese Namen an), ist die Pilatussage seit uralter Zeit ebenfalls heimisch, aber sie lautet ganz örtlich, daß der römiscbe Landpfleger nach seinem jämmerlichen Tode nicht alsbald zur Hölle gefahren, weil er Christus kreuzigen ließ, sondern in schrecklicher Stiergestalt wild brüllend umherwandeln müsse. In jede Gegend, wohin er früher gekommen war, brachte er, dem grausamen Viehschelm gleich, eine große "Sterb" mit und brüllte Tag und Nacht in einem fort. Namentlich aber habe er im Unterinntal und gegen Bayern hinaus sich zum öftern sehen und hören lassen und Menschen und Tiere gefährdet. Noch jetzt sieht man den nun neugebauten "Schreckenhof" in der Nähe am Schreckensee, der zu jener Zeit freiwillig verlassen wurde, bis er zur Ruine fiel. Denn hier vorbei vom See den Mühlbach hinauf wütete der Schreckenstier am längsten: bis ihn endlich ein frommer Franziskaner in den Schreckensee bannte, wo er nun bis zum Jüngsten Tag bleiben muß.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 27