Die Schatzhüterin im Tobel
Es kam einmal ein Wandersmann, in Gedanken versunken, zwischen Imst und Landeck zum Wirtshaus in Lasalt. Da weckten ihn lustige Töne aus seinen Träumereien, denn es war daselbst Tanzmusik. Nun dachte er nicht mehr an die Beschwerden des Tages, vergaß seine Müdigkeit gänzlich und begab sich hinein zur fröhlichen Gesellschaft. Im Tanzsaal blieb er bei der Türe eine Zeitlang stehen und bemerkte endlich am Ofen ein schönes Weib, das dem Tanze zuschaute und auf einen Tänzer zu warten schien. Der Reisende bat es daher, mit ihm zu tanzen, wozu es auch gleich willfährig war. Nachdem aber das Paar drei Tänze mitgemacht hatte, bat die Unbekannte den Wanderer, er möchte mit ihr vor die Tür hinaus gehen. Draußen hob sie also an: "Ich bin ein Geist, und du kannst mich erlösen. Dort oben im Tobel unter den Felsenwänden hab' ich zu meinen Lebzeiten einen Schatz vergraben, und jetzt muß ich dabei bleiben, bis er gehoben wird. Geh jetzt mit mir, und alles Geld ist dein, und ich bin erlöst, nur darfst du dich durch nichts erschrecken lassen, was da auch kommen mag, denn es wird dir nichts geschehen. Es wird zwar der Berg herabzustürzen und dich unter seinen Trümmern zu begraben drohen, ja noch Schrecklicheres wird kommen, aber besorge nichts, alles ist Blendwerk. Es kann dir kein Leid geschehen. Und hast du den Schrecken überstanden, dann sind wir beide glücklich!" - Also sprach die schöne Tänzerin, und der Wandersmann stieg mit ihr den steilen Pfad hinan zu dem Tobel. Als sie droben ankamen, fing es an zu krachen, als wollte der Berg herabstürzen, und die Felsentrümmer rollten auf den Wanderer zu und drohten ihn jeden Augenblick zu zerschmettern. Ein Krachen und Getöse ließ sich vernehmen, als wäre das Ende der Welt nahe. Da übermannte den Jüngling Furcht und Zagen, und er suchte sein Heil in schneller Flucht. Und sonderbar, da war alles wieder still und ruhig, als wäre nie etwas vor sich gegangen; aber den Geist hörte er seufzend und klagend rufen: "Ach, warum hast du mir nicht gehorcht? Jetzt muß ich wieder fünfzig lange Jahre harren und leiden, bis ich wieder da hinunterkomme zum Tanz; und einen Jüngling erwarten; weiß Gott, ob mich dann einer auffordert zum Tanze und ob er mich dann erlöst!" - Mit diesen Worten war alles verschwunden wie ein Traum. Nur in der Seele des Jünglings blieb die Reue über seine Feigheit lebendig - vielleicht sein ganzes Leben lang.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben
von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 183.