Die Schinderalpe im Stubaitale

Eine herrliche Alpe, Schönwies geheißen, liegt zwei Stunden vom Dorfe Neustift im Stubaitale, welcher Gemeinde die Alpe gehört. Es wurde gerne vergönnt, daß vom Alpensegen armen Leuten reichlich mitgeteilt wurde, denn es ist eine Erfahrungssache, daß solche Gaben der Barmherzigkeit auf andere Weise wieder reichlich beikommen. Einmal aber lebte auf dieser schönen gesegneten Alm, die wegen ihrer schönen grünen Matten "Schönwies" genannt wurde, ein habsüchtiger, geiziger und gottloser Senn; dem kamen die Armen allzu viele, und um nicht an sie Gaben verschwenden zu müssen, die er viel lieber sich zuwandte, ersann er eine teuflische List. Er machte einen "Nazn", wie man im Tiroler Dialekt sagt, das ist ein menschliches Zerrbild, eine Puppe nach Art der Vogelscheuchen von alten Kleidern und Lumpen, Hut und Kürbiskopf, schnitzte dem Ding Hände, gab ihm einen Löffel in die rechte Hand, und die linke stemmte er dem künstlichen Putz unter den Kopf, daß er recht lümmelhaft aussah, verband die rechte Hand so mit einer Schnur, daß die Finger mit ihrem Löffel aus vorgestellter Schüssel zu essen schienen, und sorgte, daß sie im halben Dunkel der düstersten Stubenecke saß, stellte auch Butter, Milch, Käse, Brot, einen uralten gebackenen Laib, Käse von Holz, Milch von Kalk gerührt, und sorgte auch durch etwas Honig, daß die unvermeidlichen Fliegen darauf nicht fehlten.

Kam nun ein hungriger Armer, so zeigte der Senn auf die Puppe, zog unvermerkt an der Schnur und sagte: "Schau, dort sitzt schon ein solcher Kostgänger! Schau nur, wie der Bettellotter frißt, der hungrige Sauschwanz! Siehst, den hat uns die G'meinde auffa gschickt, daß ich'n füttern muß, aber der frißt all'n Almnutz'n auf. Geh weiter, und tröst dich Gott!" Und dann sah er mit Hohnlachen die Armen von der Alpe weggehen. Kam aber ein Bauer als Eigentümer, um auf der Alpe nachzusehen, wie es gehe, dann klagte der Senner erschrecklich über die schlechten Zeiten und die Not, vom Bettelvolke täglich überlaufen zu werden, die ihm den Alpennutzen schier auffressen. Die gläubigen Bauern ließ er wohl auch durchs Türfensterl in die Stube schauen, zeigte ihnen den gefräßigen Nazn und klagte, daß Tag um Tag die Alm nicht leer werde von dem heißhungrigen Bettelvolke; dabei zog er heimlich am verborgenen Schnürl und machte den Nazn so tüchtig löffeln, daß die Bauern mit gebogenen Augenbrauen das Maul weit aufrissen und alles richtig glaubten. Die Almhirten, welchen der Betrug nicht verborgen blieb, sahen es ungern, daß der Senn Bettler und Bauern betrog, allein der Senn antwortete stets lachend, wenn sie ihm Vorwürfe machten, sie sollen ihn unkeit (unbeirrt) lassen und nur vor ihrer eigenen Türe kehren, da läge Schmutz genug.

Es kam endlich der Tag der Abfahrt, man ordnete alles an, band Alpenblumenkränze und Edelweiß und Edelrautenbüschl, und als es Abend geworden, versammelte sich das Alpenvolk für dieses Jahr zum letzten Male in der Hütte und hielt den gewöhnlichen Abschiedsschmaus mit den "führnembscht'n" Rahmnocken. Auf einmal entfielen den Hirten die Löffel von jähem Schrecken; denn plötzlich rief der Naz mit kreischender Stimme: "I will a Nock'n!" und erhob sich von seinem Sitz und hielt Schüssel und Löffel empor. Aber Senn und Hirten sprangen aus der Stube in die Käser und verkrochen sich wie Murmenteln in Winkel und Löcher, während der Naz in voller Behaglichkeit und Ruhe alle Rahmnocken verschlang und vollkommen ruhig blieb. Nach und nach begaben sich die Leute in ihre Schlemm (Schlafstätte). Der Senn, der sonst in der Stube lag, legte sich jetzt aus Furcht zuhinterst in die große Schlemm der Hirten an die Wand, die drei Hirten legten sich neben ihn. Aber die Furcht ließ sie nicht schlafen, und da es gen Mitternacht ging, da trat der schreckliche Naz aus der Stube vor die Schlemm hin, in welcher die viere lagen, glotzte sie mit fürchterlichen Augen an und begann einen nach dem andern anzugreifen. "Der ischt's not", sagte der Naz beim ersten Hirten; "der ischt's not", sagte der Naz beim zweiten; "der ischt's not!" sagte der Naz beim dritten. "Hui! der ischt's!" sagte der Naz, als er auf den Senn zu greifen kam und ihn krallenartig packte, über die drei Hirten weghob und ins Freie hinaus trug. Bald darauf hörten die Hirten den Senn so jämmerlich schreien und winseln, daß ihnen die Haare zu Berge standen. Hernach kam der Naz wieder herein, reckte sein Kürbisgesicht gegen die Schlemm und sagte: "Der hat sein'n Lohn! So soll es jedem Schinder und Schaber ergehen, der die Armen
verhöhnt!" Dann ging er zur Tür hinaus und ward nie mehr gesehen.

Am andern Morgen erblickte man den Leib des Senn geschunden auf dem Dach der Alpe liegen, seine Haut aber war über den Stuhl gebreitet, auf welchem früher der Naz gesessen hat. Seitdem heißt man diese Alpe die Schinderalpe, und ein Ferner, der sich weit vorgeschoben, hat sie so sehr verdorben, daß sie jetzt nur mit Galtvieh befahren wird.

Ähnliche "Schinderalmsagen" begegnen auch im Zillertale.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 300.