Die Seaba
Auf den ziemlich umfangreichen Villanderer Alpen mit ihrem beständig feuchten Moorboden liegt ein stiller, schwarzer, unheimlicher Bergsee, über dessen Moordecke zu schreiten gefährlich genug ist. Das Volk nennt ihn insgemein nur die "Seaba" (See).
Hier stand einst ein glückliches Bergdorf, dessen Bewohner durch die nahen Metallgruben und üppigen Alpentriften unendlich reich, aber auch so hochwürdig und schwelgerisch geworden waren, daß Saufen, Tanzen und Buhlen zur Tagesordnung wurden; daher ging es bei ihnen zu wie in den Städten Sodom und Gomorrha. Aber endlich, nachdem dreimal eine Warnungsstimme vergeblich erschollen war, versank das Dorf tiefer und tiefer in den Boden, und schwarze Gewässer stiegen empor und überfluteten so weit hinauf den Grund, als das Dorf gestanden hatte. Zugleich verdorrten die grünen Waldungen, ringsum spalteten sich die Felsen, verschütteten sich die edlen Metallgruben und versumpften die Alpenfluren, so daß es ein Jammer war, wie es noch heute wohl zu sehen ist. Kein Vogel, kein Wild läßt sich sehen, die Gegend ist fluchbeladen - tot! Wenn es bei dem geblieben wäre, so wäre es doch vorbei, aber in den Sommernächten wird es da droben gar lebendig und unheimlich: Gestalten tauchen aus dem See in luftigen Hüllen empor und tanzen Paar an Paar auf dem Wasserspiegel bei Gesang und Musikklang, welchen der Wind manchmal bis zum Hörn (ein Berg) hinaufweht; in die Schächte der Bergwerke schreiten Knappen mit dem Grubenlichte in der Hand und graben und hämmern am funkelnden Gesteine, dort dengeln bleiche Jünglinge die Sensen auf einem Stein, dort im Moose mähen blutlose Dirnen das Geröhricht ab; eine goldene Kugel rollt auf einer langen Bahn auf neun Kegel, welche ebenfalls vom reinsten Golde sind und welche man bei hellen Tagen im Wasser erblicken, aber nicht heraufziehen kann. So spukt und bewegt sich die verdammte Geisterwelt und zeigt gleißendes Gold. Erst wenn man die geweihte Glocke in Villanders zum Gebete läutet, wird alles gelähmt und stumm, dumpf rauschen die Wellen am See, und mit einem Weheruf ist alles verschwunden.
Johannis-Stollen auf der Seaba, Villanderer-Alm,
Villanders
Beachtenswert ist das gemauerte Gewölbe am Stolleneingang
© Gasser
Franz, Juni 2004
Diese Sage hat ungemein viel Verwandtschaft mit der von den Moorjungfrauen
auf dem Rhöngebirge in Hessen; auch dort weite Sumpfstrecken; auch
dort infolge gottlosen Lebens versunkene Dörfer; auch dort zur Nachtzeit
tanzende Paare.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 376.