Die Edelfrau von Sprechenstein
Auf der schönen und stattlichen Burg Sprechenstein am Eingang in das Talbecken von Sterzing wohnte eine Edelfrau, welche in Abwesenheit ihres Gemahles von 6 Kindern zugleich entbunden wurde, 3 Herrlein und 3 Fräulein. Das war ihr des Segens allzuviel; sie behielt nur den einen der Knaben und gebot der Amme, die ändern gleich jungen Wölflein in den Burggraben zu werfen. Die Amme gehorchte, da begegnete ihr der zurückkehrende Ritter und fragte sie, was sie trage, und die zagende Amme erwiderte: "Junge Hunde!" Da nun aber der Ritter dieselben sehen wollte, faßte ihn ein tödlicher Schreck, als er lebende Kindlein sah, und er gebot alsbald der Amme, wohin sie dieselben tragen und daß sie bei Verlust ihres Lebens der Herrin nichts sagen sollte. Der Ritter ließ die Kindlein sorglich erziehen, bis sie sechzehn Jahre alt waren, dann berief er einen Ritterrat, zu dem auch zwei schöne Junker und drei zarte Fräulein kamen, die niemand kannte. Dort beim Feste warf der Ritter die ernste Frage auf, was einer Mutter gebühre, die ihre eigenen Kinder Hunden gleich ersäufen lasse. Der Edelfrau fuhr es durchs Herz wie ein Messer - und "Tod! Tod!" scholl es schauerlich von allen Lippen der Ritter. "Dort sitzt die Rabenmutter!" sprach der Burgherr, "und diese 5 sind die Wölflein", indem er auf seine Gemahlin und die jungen Gäste zeigte. Der Tod war ihr gewiß, aber die Kinder erflehten ihr das Leben. Hier ist eine Wiederholung der auch im übrigen Deutschland überaus häufig begegnenden Welfensage, nur daß nicht der Name Hund oder Wolf oder Rüde an das Geschlecht sich knüpft, wie bei den Hunden auf dem Schlosse Saalfelden unterm Watzmann, den Rüden von Collenberg in Franken, den Hunden zu Weißenstein in Bayern, bei den Grafen von Querfurt, den Hohenstaufen (welche Quelfen [Weifen] bekämpften, wie die Bayern genannt wurden) und noch andern.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 312.