Stein nach der Kuh

Im Norden von Münster im Unterinntale bildet sich ein Bollwerk von Riesenbergen, von denen das Sonnenwendjoch die herrlichste Krone ist, denn nicht nur, daß es im Sommer mit dem üppigsten Grün zur gesegneten Almweide bedeckt ist, auch in dessen Innern hält es noch reichere Erzlager edlen Metalles verborgen. An einem Nachmittag im Sommer lag ein Hüterbub von einer nahen Alm gemächlich auf eine Grasdecke hingestreckt. Vor ihm lag eine Landschaft ausgebreitet, die den schönsten Stoff für einen Maler geboten hätte, nämlich Rattenberg mit den ehrwürdigen Ruinen der Feste, Brixlegg mit seiner amphitheatralischen Umgebung, mit den rauchenden Schmelzöfen, der ehrwürdige Turm des alten Masciacum mit der großartigen, grauschwarzen Prachtruine Kropfsberg. Ob der Hüterbub von dieser Landschaftspracht so entzückt war, wie der Erzähler dieser Sage, oder ob er nicht vielmehr an ganz andere Dinge, oder ob er alleweil gar nichts dachte - darüber weiß man nichts Gewisses; er fuhr auf einmal sehr unwirsch auf aus seiner Betrachtung und verfolgte ein Rind, das sich aus seinem Bereich entfernte, und warf ihm einen großen Stein nach. Da hörte er ein Ächzen, und vor ihm stand ein Männlein mit magerem Gesichte und dünnen Haarlocken, beinahe ganz in schwarzen Samt gekleidet, mit einem sonderbaren Schnitt. Dieses Männlein sprach zum Hirten: "O du Tor! Mit welchem Steine wirfst du nach deiner Kuh? Such ihn, such ihn, er ist mehr wert als jene!" - Damit ging das Mandl hinweg, und der Hirte suchte den Stein und fand ihn auch glücklich wieder. Der Stein bestand aus zwei Dritteln Goldes. Nun schleppte der Hüterbub fast einen halben Berg Steine ins Tal herunter - war aber in allen übrigen kein Körnlein Gold enthalten.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 54