Der erlöste Stiergeist
In einer Almhütte auf Hochlizum im Wattentale lebte ein Senn, der
weit und breit durch seine Stärke wie durch seine Furchtlosigkeit
bekannt war. Einst stand er am Hilpolt, einem Berge in der Nähe von
Hochlizum zuhinterst im Wattentale, und überzählte seine Herde,
Stück für Stück; da sah er drunten in dem tiefern Grund
einen ihm unbekannten roten Stier, der wild um sich schaute. Der Senn
schleuderte alsbald einen Stein nach dem Stier, um ihn zu vertreiben,
damit er seiner Herde nicht zu nahe komme und sie etwa versprenge. Da
kam alsbald der Stier herauf und brüllte wütend. Der mutige
Senn erwartete ihn indes auf der sichern Stelle, wo er stand, mit hoch
gehobenem Stock und dachte: Komm nur her! Immer stärker brüllte
der Stier, der nun nahe gekommen war, und wühlte mit den kurzen dicken
Hörnern die Erde auf. "Nun warte!" rief der Senn, warf
den Stecken weg, stürzte auf den Stier zu und packte ihn bei den
Hörnern eisenfest. Es gab ein heftiges Ringen, der Stier brüllte,
stampfte, aber der Senn ließ ihn nicht los, sosehr er sich schüttelte,
und endlich drängte er ihn an einen Felsenrand über einer tiefen
Schlucht, noch ein kräftiger Ruck, und der Stier lag drunten und
zerschellte. Aber wie der Senn noch zitternd von dem allgewaltigen Kampfe
stand, hob sich aus dem Abgrund die geisterhafte Gestalt eines ändern
Sennen, der rief: "Hab Dank, daß du mich erlöst hast.
Aus Rache und Frevel habe ich einst hier den Stier eines ändern Bauern
in den Abgrund geworfen und habe nun so lange in Stiergestalt auf der
Alpe herumgeistern müssen, bis mir ein anderer das Nämliche
tue, was ich getan." Mit diesen Worten verschwand er.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 98