Stift Marienberg
Auf einem Kofel im Walde, der eine Stunde Wegs hoch im Gebirge ob dem jetzigen Stifte Marienberg im obern Vintschgau steht, liegen die spärlichen Trümmer eines alten Schlosses, Castlatsch benannt, vermutlich nach dem welschen Namen Castelaccio verdeutscht. Dieses Schlosses Herren waren zwei Brüder, welche sich veruneinigten - man sagt wegen Erbangelegenheiten von Schloß und Gütern -, ein Kampf auf Tod und Leben begann, in welchem ein Bruder den ändern erschlug. Nach der blutigen Tat kam bittere Reue über den Lebenden. Er gelobte zur Buße ein Kloster zu gründen, und zwar da, wo ein schwer mit Gold beladenes Saumroß * der Last erliegen und niederfallen werde. Er belud richtig mit seinem reichen Goldschatz ein Saumroß, welches sich selbst überlassen die rauhen Felsgründe seitabwärts überkletterte und auf der Anhöhe über dem Talschlosse Fürstenburg niedersank und liegen blieb. Dorthin ward nun das Kloster gebaut und Marienberg geheißen, und der Brudermörder trat als Mönch in dasselbe und büßte darin seine Untat ab. Später erwuchs im Laufe der Zeiten das Stift Marienberg zu einem stattlichen und mächtigen Bau, der einem Fürstenschlosse gleich weithin den Talgrund beherrscht. Nach Gründung dem Geschlechte der Vögte und Grafen von Matsch verdanken, welche ganz in der Nähe zwei Burgen, Ober- und Untermatsch, besaßen, die nun auch in Trümmern liegen. Einer dieser Vögte, kinderlos, hatte mit seiner Gemahlin schon lange den Entschluß gefaßt, ein Kloster zu bauen, nur waren sie über dessen Ort und Lage nicht einig. Da erblickten beide jeden Abend von ihrer Burg aus hoch über Burgeis vier helleuchtende Lichter und bauten das Kloster an dieser Stelle. Im Dorfe Matsch wurde im siebenten Jahrhundert der heilige Florinus auf einer Pilgerreise seiner Eltern, die aus Britannien stammten, geboren. Die Eltern ließen hier sich nieder, und Florinus wurde der geistliche Führer der jungen Christengemeinde.
* Die eigentliche Volkssage sagt, daß es ein "goldbeladener
Esel" gewesen. Ich habe ein Saumroß daraus gemacht, um unzeitigen
Witz zu verhindern, daß ein reicher Esel die Stätte des altehrwürdigen
Stiftes bestimmt habe.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 239.