Die Vöraner Fräulein

Auch bei Vöran, unweit Mölten und dem an der Straße nach Bozen liegenden Orte Gargazon, wohnten einst selige Fräulein. Als Freundinnen der Häuslichkeit und der Herden kehrten zwei derselben mit allen ihren guten und segenbringenden Eigenschaften häufig auf dem Hofe des alten reichen Egger ein. Nächstdem, daß sie spannen und sangen und den Flachs behüteten, gingen sie auch in den Kuhstall und sammelten dort auf eine wunderbare Weise alle "verbearte" (verschüttete) Milch, wodurch sie dem Hofbauer viel ersparten, wenn sie auch das oder andere Mal aus dem Milchstutz ein paar Tropfen tranken. Niemand wehrte das, um so weniger, als dadurch der Milch nicht weniger, eher mehr wurde. Der alte Egger war aber, obschon er sehr reich war, just einer von denen, die nie genug haben und von denen das Lied singt:

Je mehr er hat, je mehr er will,
Nie schweigen seine Klagen still.

So kam der alte Egger einmal abends sehr unwirsch und übellaunig aus dem Wirtshause, mochte dort wohl zu tief ins Glas gesehen haben, torkelte in den Kuhstall und gewahrte darin die zwei Seligfräulein, von denen eben eine den Milchstutz ansetzte, um zu trinken. "Sakara! Sakara! Was ischt denn dös? Söllis gefreut mi schon!" schrie der Egger voll Zorn, zog sein Messer, griff nach der vermeinten Dirn und wollte ihr gleich ein Ohr abschneiden - aber rasch entschlüpften im beide, blieben in der Stalltüre noch einmal stehen und sprachen mit klagender Stimme:

Ach und weah! Ach und weah!
Und nia koan reicha Egga meah!

und gingen auf und davon, niemand sah sie wieder; der reiche Egger wurde arm und elend, und die Prophezeiung der beleidigten Seligfräulein erfüllte sich buchstäblich.

Hier schlingt sich die Seligfräuleinsage in den Sagenkreis nützlicher, hilfreicher und Gut vermehrender Hausgeister ein, was anderwärts, zumindest in bezug auf Milchgewinnung, nicht leicht begegnet.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 275.