Vinzenz, der Wasserschmecker
Im Iseltale machte sich einst ein Mann bemerkbar, namens Vinzenz; das war ein sogenannter Wasserriecher, der mancherlei seltsame Eigenschaften besaß. Vor allem hatte er die merkwürdige Gabe, überall zu entdecken, wo unterirdische Quellen verborgen waren. So war in der Pfarrei Dölsach bei Lienz ein Bauer namens Tschuling, dem fehlte es sehr an einem Brunnen auf seinem Gehöft; er ließ deshalb den Vinzenz kommen, und der bezeichnete ihm bald eine Stelle im Garten, wo er nachgraben solle. Tschuling aber lachte ihm ins Gesicht und sprach: "Narr! Hier ist alles Fels, und wo Fels ist, kann kein Wasser sein." - "Selbst Narr, damischer dazu!" antwortete Vinzenz: "Wo Wasser ist, ist kein Felsen; droben der Waßler, dein Nachbar, muß 18 Fuß durch Felsen niedergraben." Beides bestätigte sich; denn beide gruben einen Brunnen, obwohl beim Tschuling im Garten sonst alles Felsen war und bei letzterem im ganzen Acker nie ein Felsen entdeckt worden war; nur an einem Orte war ein kleiner Bühel, wo dann in der Tiefe Felsen standen. Einmal schlief dieser Vinzenz bei einem Bauer mit Namen Rainer in der Stube, da ging am folgenden Tage in der Früh, als es noch ganz finster war, beiläufig um 4 Uhr, der Nachbar dieses Bauers in dessen Mühle, um zu mahlen, und griff daher beim genannten Bauer bei der Stubentür hinein, um den Mühlschlüssel herauszulangen ohne hineinzugehen. Deshalb fragte nun Vinzenz beim Frühstück, wer denn bei der Tür hereingegriffen habe, und als man ihm sagte, es sei der Nachbar gewesen, der da den Mühlenschlüssel geholt habe, welcher bei der Tür gehangen sei, so sprach Vinzenz: "So? Über ein Jahr wird er euer Nachbar gewesen sein!" Und richtig starb jener noch im selbigen Jahre. Sonach schmeckte Vinzenz nicht nur Wasser, sondern sogar den Tod anderer Leute.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 352.