Der Wilde zu Pfrain
In der hohen Gebirgsregion des Schlern, auch in der Alpengegend, welche 5000 Fuß über dem Meere Pfrain genannt wird, und auf den das Blanke Hörn genannten 8000 Fuß hohen Bergesspitzen hauste einst ein Wilder oder "Wilder Mann". Er besaß Riesengröße und Riesenstärke und erschreckte gar oft die Älpler in oder bei ihren Sennhütten, war aber im Grunde doch nicht immer allzu schlimm und hatte bisweilen auch seine gemütlichen Stunden; dann heimgartete er bei den Hirten und erzählte viele Wunderdinge. Einstmals ward er von einem Senn gefragt, wie alt er denn eigentlich sei, denn er hatte alle Ahnin gekannt; darauf antwortete er:
I denk' den Schlern
Kloan wie an Nußkern
Und z' Pfrain
Den besten Wein
Und auf Blankenhorn
's beste Korn.
Das waren freilich andere Zeiten, und wie nach und nach Zeiten und Menschen schlechter wurden, so war es auch bei dem uralten Wilden der Fall. Er machte sich durch manche Untat verhaßt, und die Bewohner begannen darauf zu sinnen, ihn zu verderben, es gelang aber nicht; endlich wollten sie es mit Branntwein versuchen, den der Alte so gern trank, wie viele Zahme, die hernach, wenn sie sich voll- und tollgetrunken, auch Wilde werden. Ganze Gemeinden schössen zusammen für ein Faß voll Branntwein, das sie dem Wilden auf Steine legten, im besten Verhoffen, er solle sich daran tottrinken. Er fand das Faß, trank sehr wacker, setzte bisweilen ab und sagte:
Je mehr ich trunk',
Wie besser er mi dunk'!
Das lautete für die Hörenden wenig tröstlich; endlich aber wurde, doch nicht eher, als bis das Faß leer war, der Wilde etwas rauschig, warf das leere Faß hin und schwerkelte (taumelte) weiter. Bald darauf fiel er von einem Felsen herab und brüllte fürchterlich. Als aber nun die Hirten in den Abgrund kletterten, wo sie ihn zerschmettert liegen zu finden hofften, war er fort und nirgends eine Spur von ihm zu finden, kam auch niemals wieder, und so waren jene Seelen froh, ihn endlich los zu sein; doch haben sie nicht Brief und Siegel darüber, ob er nicht an einem schönen Abend wieder kommt.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 364.