Die Wildg'fahrhöhle am Sonnenberge.
Ueber Naturns, am linken Ufer der Etsch und ohnfern von Meran gipfelt sich den Sonnenberg hoch und kahl und öde in die Wolkenhöhe, doch sind, bevor die steilen und schier unzugänglichen Felsen beginnen, heitere und glücklich gelegenen Gehhöfte zu erblicken, die sich in der grünen Region des Sonnenberges angesiedelt haben, z. B. Schnatz, Gruas, Ginzl, Galmein u. A. Hoch über diesen Gehöften aber geht ein gähnender Höhlenstpalt zu Tage, wie am thüringischen Hörseelenberge, dem Schauersitz des wüthenden Heeres. Dieses Berg- und Zwergloch heiß zwar das Lorggenloch, aber es zieht auch das Wildg'fahr dort aus und ein mit gräulichem Getön und Getöse, und rauscht, wie mit gedörrten Häuten.
Viele wollen den nächtlichen Spuk gehört und gesehen haben. Wer auf bösen Wegen wandelt, wer mit schlimmem Vorsatz sein Haus zur nachtzeit verläßt, oder als übervoller Trunkenbold heimtorkelt, der ist dem Spuk des Wildg'fahr verfallen, und wehe ihm, wenn das Spukheer ihn antrifft und mit sich fortreißt.
Das Lorggenloch ist ein fast 2 Klafter tiefe, innwendig wie glatt gemeiselte Höhle von Gneis; es ist überaus verrufen und Nachts wagt sich niemand in seine Nähe.
Am nächsten von den dort umher liegenden Gehöften ist deses Loch dem Rofnerwaldgute gelegen, welches der Name eines bedeutenden Bauernanwesens ist. Nächst dem Wildg'fahr ist das Lorggenloch noch von einem unheimlichen Schreckniß bewohnt, und das ist die Todtenkopfspinne, eine Spinne, so groß wie der Schädel eine neugeborenen Kindes und einem weißbraunen Menschenschädel auch täuschend ähnlich, so daß, wer ihrer ansichtig wird, alsbald vor Entsetzten den Geist aufgiebt, oder aber den Verstand verliert. Der Todtenkopfspinne ist ein noch völlig ungelöstes Rätsel in der heimischen Mythe, und niemand weiß, in welcher geheimnisvollen Beziehung dieselbe zum Wildg'fahr oder zu dem Lorggen steht. Grausenhafter Spinnensagen giebt es noch mehr im Lande.
Quelle: Mythen und Sagen Tirols. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Zürich 1857, Nr. 10, S. 70.