DAS VERSUNKENE DORF
In dem Seitental des Lechtales, wo jetzt die Alpe Almajur liegt, stand einst ein schönes Dorf. In der Nähe war ein Silberbergwerk, in dem die meisten Leute aus dem Dorfe arbeiteten, wodurch sie steinreich wurden. Aber der Reichtum machte sie stolz und übermütig, und in ihrer Ausgelassenheit wußten sie oft gar nicht, was sie beginnen sollten.
So schlossen sie einmal am hellen Tage alle Türen und Fensterläden; denn sie brauchten nicht Gottes Licht, so sagten sie, und könnten sich ihre Stuben und Säle selbst beleuchten.
Endlich war das Maß ihrer Frevel voll, und das ganze Dorf versank in einer stürmischen Nacht, so daß man keine Spur mehr davon erblickte. Lange Zeit nachher ging einmal ein Mann aus dem Dorfe Hägerau noch spät nachts an diesem Orte vorbei. Zufällig kam er in einen unterirdischen Gang, zündete eine Kerze an, die er bei sich hatte, und kam bis in das Chor der versunkenen Kirche.
Als er aber den Hochaltar erblickte, der in schönstem Schmucke dastand und auf dem die Silberleuchter funkelten, war er starr vor Staunen. Er faßte sich aber wieder, nahm einen Leuchter, besah alles genau und trat den Rückweg an.
Als er eben aus der Kirche hinausgehen wollte, erblickte er im hintersten Betstuhl einen alten Mann, der so dasaß, als ob er schliefe. Er richtete sich aber sogleich auf, als der Hägerauer näherkam, und fragte ihn um das Jahr der Zeitrechnung.
Der Mann sagte es ihm; aber der Alte seufzte und sprach: "Es ist noch nicht Zeit;" dann sank er wieder auf die Bank zurück. Da packte den Mann die Furcht, er stürzte hinaus und lief über Stock und Stein nach Hause. Er erzählte sogleich alles, was er gesehen und gehört hatte, seinem Weibe und zeigte ihr den kostbaren Leuchter. Dann legte er sich zu Bette, aber aus dem Schlafe erwachte er nicht mehr.
Quelle: Götter- und Heldensagen, Genf 1996,
Seite 592