Sagen vom Harlaßanger-Kirchlein
Der Wallfahrtsort der Brixentaler Älpler Harlaßanger, welcher zweieinhalb Stunden von Kirchberg am Gaisberg liegt, ist von vielen Sagen umrankt. Ein alter Senner erzählte mir die aufgezeichneten Sagen.
In uralter Zeit hauste in der Nähe von Harlaßanger ein Kohlenbrenner. Eines Tages, als der Köhler dabei war, einen Stamm zu klieben, wurde er ganz verzagt, denn das Holz brachte er nicht entzwei. Da erschien ihm ein wildes Fräulein und fragte den Köhler, ob sie ihm helfen dürfe. Das gefiel dem Köhler. Das wilde Fräulein tat ihre Hände in den Spalt, um den Stamm auseinanderzureißen. Doch der Köhler nahm sofort die Keile heraus - und das wilde Fräulein war mit den Händen eingeklemmt. Das wilde Fräulein schrie um Hilfe. Ein Riese kam und befreite das Fräulein. Zum rohen Kohlenbrenner aber, der bis jetzt zuschaute und lachte, rief der Riese folgende Worte: "Haar laß, hin bist du doch!" Auf der Stelle stürzte der Kohlenbrenner tot zusammen.
Viele hundert Jahre später baute ein Bauer - es soll der letzte Nachkomme von diesem rohen Kohlenbrenner gewesen sein - das Harlaßanger-Kirchlein, damit kein Unrecht mehr in dieser Nähe geschähe.
Eine andere Sage, gleichfalls von den wilden Fräulein, berichtet:
Auf dem Gaisberg hielten sich in sturmbewegter Zeit eine große Schar
wilder Fräuleins auf. Ihre kargen Mahlzeiten bettelten sie sich bei
den Bauern. Doch eines Tages wurden die Frauen von den Bauern mit groben
Worten überhäuft. Die wilden Fräuleins jammerten über
ihre große Not. Als ein Bauer dieses Jammern hörte, erbarmte
er sich ihrer und beschloß, ihnen alle Tage Essen zu geben. Nur
eine Bedingung stellte er ihnen: sie müßten ihm seinen Sohn
vor allen Gefahren schützen. Dies taten sie auch. Doch eines Tages
kamen keine wilde Frauen mehr; der Sohn war verschwunden. Alle waren ganz
traurig. Im Bauern flammte der Zorn auf. Er sprach nichts; aber in Gedanken
wünschte er den wilden Fräuleins den Untergang. "Sie sollen
alle sterben müss'n, die wilden Fräulein!" wünschte
der Bauer noch vor dem Schlafengehen. Da - am Morgen, kam der Sohn und
war ganz traurig. Über dem Bauernhof flogen die wilden Fräuleins
und schrien: "Der Bauer und sein Sohn gehör'n dem Krieg!"
So kam es auch. Einige Monde nach diesem Geschehnis wurden der Bauer
und sein Sohn Opfer des Kriegssturmes. Die Bäuerin ließ zum
Andenken an ihren Mann und ihren Sohn das Harlaßanger-Kirchlein
erbauen.
Quelle: Anton Schipflinger in: Sonntagsblatt Unterland
1936, Nr. 17, S. 7
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner
näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger
Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler,
Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).