Irrwurzen im Brixental
In zwei Wäldern des Brixentales kommen Irrwurzen vor. Es sind dies jene Würzen, bei denen man in die Irre geht, vom Weg abkommt, wenn man darauftritt. Im Bruggberg-Walde und im Auner-Walde sind solche Würzen und die Sage weiß viel von diesen Würzen und den Begebenheiten über Menschen, die auf solche Wurzeln traten, zu erzählen. Vor allem der Bruggberg mit seinen sumpfigen Wiesen ist sagenumwoben. Oft erzählen Bauern, Bäuerinnen und Dienstboten, besonders die in der Nähe dieser Wälder wohnen, von den Irrwurzen. Auch meine Mutter wußte mehr als ein halbes Dutzend Sagen. Einige dieser Sagen mögen folgen:
Einst ging ein Wildschönauer nach Soll zu einem Bekannten. Er benützte den Weg über den Bruggberg, der ihn schneller an das Ziel führte. Es war bereits dämmrig, als er zu Oberfoisching nach dem Weg fragte. Die Bäuerin sagte ihm den Weg genau an, da es aber schon sehr dämmrig war, fügte sie die Mahnung hinzu: "Bleib bei uns über Nacht, denn, wenn du auf eine Irrwurz trittst, so kommst du sieben Tage nicht mehr aus dem Wald." - Der Wildschönauer schlug die Warnung der Bäuerin in den Wind und ging den Weg weiter. Bald wurde es dunkel, es kam die Nacht und nach einer Weile schien der Mond in verschwenderischer Helligkeit. Der Mann kam nicht mehr aus dem Walde. Nach stundenlangem Umherirren kam er zu einer moosigen Wiese, an deren Rande er sich unter einem Baume niederlegte, um den Tag zu erwarten. Es wurde nicht mehr Tag. Oft wurde der Wildschönauer wach, immer schien der Mond gleich hell. Die Schatten der Bäume, das wunderbare Dunkel im Walde war so schön, daß er sich unter dem Baume aufrichtete und die Schönheit betrachtete. Ein wunderschönes Bild war es. "Geh, die Irrwurz führt dich", sagte tief und widerhallend eine Stimme. Der Wildschönauer ließ sich dies nicht zweimal sagen. Er ging, wohin ihn die Füße trugen. Nach einer langen Weile kam er zu einer alten Lärche. Um diese Lärche tanzten drei Berggeistein. - "Was tanzt ös da?" fragt der Bauer. - "Den Irrwurzentanz mit Waxlaub-kranz", antworteten die Berggeistein. - "Tanz mit! Tanz mit!" luden sie den Wildschönauer ein. - "Meine Füaß sand zu alt", darauf der Wildschönauer. - "Niemand is z' jung, niemand is z' alt, Mitternacht kirnt bald", erwiderten die Berggeistein. Der Bauer tanzte nicht mit. Er wartete bis Mitternacht und als dann der ganze Spuk verschwand, legte er sich zu dieser Lärche hin und schlief bald ein. Als er am nächsten Morgen wach wurde, trat er seinen Weg an und kam gegen Mittag aus dem Dickicht des Waldes hinaus.
In seinem Leben ging er nie mehr diesen Weg, denn das Erlebnis in jener Nacht wirkte in ihm so nachhaltig, daß er Zeit seines Lebens zu keiner Tanzunterhaltung mehr ging. Daß er mit den Berggeisteln nicht mitgetanzt habe, sei sein Glück gewesen, so daß er am nächsten Mittag aus dem Irrwurzenwalde herauskam. Wenn er mitgetanzt hätte, wäre er sicherlich in das geheimnisvolle Innere des Berges gezaubert worden und wäre erst dann wieder herausgekommen, wenn seine Haare schneeweiß geworden.
Ein Bauer in der Nähe des Bruggberges war mit seinen Leuten auf der Streumahd auf dem Bruggberg. Während alle abends heimgingen, blieb der Bauer droben, denn es verdroß ihn, heimzugehen. Als es dunkel wurde, hörte der Bauer eine Stimme, die sagte: "Geh' oan Schritt, geh eine Weil', wart' nit lang, geh', bis Mitternacht wird." - Etliche Male hörte der Bauer diesen Spruch, ohne einen Fuß zu rühren. Als aber die Stimme immer lauter wurde, erhob er sich vom Boden und ging ein kleines Stück in den Wald hinein. Da trat er auf eine Irrwurz. Den Weg zum Zurückgehen fand er nicht mehr. Immer tiefer kam er in den Wald hinein. Schließlich legte er sich bei einer Tanne nieder und schlief bald ein. Am frühen Morgen des nächsten Tages versuchte er, den Weg aus dem Walde zu finden, ohne Glück und Erfolg zu haben.
Während des ganzen Tages irrte er umher. Am Abend war der Bauer ganz verdrossen und verzagt. Der Schlaf übermannte ihn bald. In dieser Nacht hatte er einen gar seltsamen Taum. Er sah seinen Hof im Winterkleid, so in der Zeit um Neujahr etwa. Da trug man eine tote Frau zu seinem Hause und begehrte Einlaß. Erschrocken öffnete er und man trug seine Frau in das Haus. - Am nächsten Tage fand der Bauer den Weg und kam aus dem Walde. - Der Traum wurde bittere Wahrheit. In einer Nacht nach Neujahr brachte man seine Frau tot in das Haus. Sie ging abends zum Nachbarn und starb dort in der Stube eines jähen Todes.
Beim Lengerer Stall waren früher stets Tanzunterhaltungen. An frischen Herbstabenden fand sich das junge Volk des Bruggberges hier zusammen und unterhielt sich auf das beste. Gar nicht weit von diesem Stalle entfernt steht ein Stein, auf dem die Fußspuren des Teufels zu sehen sind.
Da war wieder einmal so ein lustiger Tanz. Alles war fröhlich und munter; echter Kirschschnaps, tückisch und süß, wie er ist, ging um die Runde. Während alle sich fröhlich nach den Klängen der Musik drehten, tat der Teufel, auf dem Steine stehend, einen grellen Juchezer, so daß alles erschrak. Man eilte aus der Tenne und jedermann sah zu seinem Entsetzen den Teufel, der nun recht hölzern lachte. Eilig trennte sich das junge Volk und ging schnellen Schrittes nach Hause. Manche waren von der anderen Seite des Bruggberges und mußten durch den Wald gehen, um nach Hause zu kommen. Im Walde sahen sie zur linken Seite immer das Bild des hölzern-lachenden Teufels. Zwei junge Burschen traten in dieser Nacht auf eine Irrwurz, kamen vom Wege ab und mußten im Walde bleiben. Gegen Morgen kamen sie auf einen schönen Hof. Im Osten stieg die Sonne immer höher. Als sie vor dem Hause standen, war es bereits ordentlich Tag. Aus dem Hause kam ein alter Bauer und sagte: "Seid's jung und werd's bald alt." - "Ach was! Wir arbeiten am Hof, wir füttern das Vieh und leben ohne Sorgen", erwiderte einer der beiden, langte nach der Mistgabel und begann mit der Herbstdüngung. Der andere folgte seinem Kameraden und beide schafften Tag für Tag. Zu essen bekamen sie von der alten Bäuerin. Die Kost war gut. Bald wurde es Winter. Schnee fiel auf die Erde; die Rauchnachtzeit kam. In dieser Zeit starben die beiden Bauersleute. Nun waren die beiden Burschen Bauern und mußten es so lange bleiben, bis ein anderer sich hierher verirrte.
Auch vom Aunerwald bei Westendorf sind uns etliche Sagen von Irrwurzen überliefert.
Einmal trat ein Bauer im Aunerwalde auf eine Irrwurz. Nach langem Umherirren fand er eine Höhle. Aus Neugierde trat er ein. Darin schliefen drei Riesen beim Schein einer Pechfackel. Der Bauer bestaunte das Innere der Höhle und es kam ihm ungemütlich vor. Als er sich entfernen wollte, wurden die Riesen wach und luden ihn ein, bei ihnen zu bleiben. Der Bauer folgte der Einladung, setzte sich in ihre Mitte und fing mit ihnen zu plaudern an. Sie redeten von harter Arbeit, von guter Kost, vom Vieh, vom Wetter und von der Kraft. Die Riesen erzählten voll Stolz von ihrer gewaltigen Kraft und erzählten Begebenheiten, wo sie ihre Kraft unter Beweis stellen mußten.
Der Bauer hörte aufmerksam zu, fügte manchmal ein Wort hinzu und foppte die Riesen. Dadurch wurden die Riesen immer redseliger. Einer machte dem Bauern den Vorschlag, wenn er ihnen ein "Mensch" verschaffe, so könne er sie zur Arbeit auf seinem Hofe haben. Jetzt gefiel dem Bauern die Rede nicht mehr. Er schickte sich an die Höhle zu verlassen. Die Riesen hielten ihn mit schönsten Worten zurück. Nun gaben ihm die Riesen zu verstehen, daß er ihnen nicht mehr entrinnen könne, denn er sei auf eine Irrwurz getreten und müsse daher so lange bei ihnen bleiben, mit ihnen essen und leben, bis ein anderer auf eine Irrwurz trete und den Weg zu den Riesen gehe. Dies dauerte doch immer etliche Jahre, denn man mied den Weg durch den Aunerwald bei Nacht. In dieser Zeit, und mochte sie noch so kurz sein, wurde bei den Riesen jeder alt und seine Haare nahmen schneeweiße Farbe an.
Eine andere Sage berichtet von einer Bauerndirn, die ebenfalls bei Nacht im Aunerwalde auf eine Irrwurz trat und zu den Riesen kam. Anfangs war sie keck und fröhlich, doch Tag für Tag wurde sie stiller und "dasiger". Wenn sie vom Fortgehen sprach, grinsten sie die Riesen höhnisch an und sagten: "Geh nur, du kommst doch bald wieder." Eines Tages entschloß sie sich zum Gehen. Ihre Füße trugen sie nicht weit. Alles war dunkel, unheimlich und gefühllos. Wenige Schritte war die Dirn gegangen, als sie umkehrte. Bald darauf starb sie.
Die Sagen von den Irrwurzen werden stets als Hinweis zum Tode gebraucht, denn wer auf eine Irrwurz getreten ist, der kann nicht mehr gesund zu den Seinen zurück, wenn er überhaupt noch zurückkonnte. So hatten die Leute der vier Westendorfer Höfe Burwegen, Degenmoos, Schwaigern und Tappen das Unglück, auf dem Wege durch den Aunerwald auf eine Irrwurz zu treten. Sie kamen alle nicht mehr zurück.
Quellen: Mündliche Mitteilungen von Anna Schipflinger, Hopfgarten,
und Leonhard Oberlindober, Bauer zu Vorderaschenmoos. (Anton Schipflinger)
Quelle: Anton Schipflinger in: Tiroler Heimatblätter
1941, Nr. 1/2, S. 25.
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner
näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger
Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler,
Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).