Das Männlein auf der Stegnerbrücke
An einem Sonnwendtag in alter Zeit stand auf der Stegner Brücke in Hopfgarten ein katzgraues Männlein. Ging eine Weibsperson über die Brücke, so sagte das Männlein: "Weibl, Weibl, wohin so gneatig, bist in dein Grenn (Lauferei) nit bald fertig?" Überschritt ein Mann die Brücke, dann sagte es: "Mannaleut wohin? Zu einer Frau im Hopfgartner Marktl?"
Gegen Mittag schritt ein Penningberger Bauer über die Brücke. Das Männlein stellte sich in die Mitte der Brücke und fragte den Bauern:
"Wohin gehst du?"
"Ins Marktl", entgegnete der Bauer.
"Dann laß dir Zeit."
"l habs eilig."
"Magst a Geld?"
"Ja", antwortete der Bauer vor Freude.
"Wenn du in deinem Keller nachgräbst, findest du drei Häfen
voll Gold."
"Gott vergelt's", antwortete der Bauer.
"Aber", fuhr das Männlein fort, "nit heiraten darfst."
"Ja, ja. Gott vergelt's", sagte der Bauer. Er ging schnell nach
Hause, grub im Keller nach und fand, wie das Männlein sagte, drei
Häfen voll Gold.
Bald darauf überschreitet eine schöne Bauerntochter die Stegnerbrücke.
Das Männlein fragt:
"Wohin, schönes Bauerntöchterlein? Magst a Geld?"
"A Geld?" fragte das Bauernmädchen, "Geld mag ich
alleweil."
"Dann gräbst bei der Eiche, welche vor eurem Haus steht nach
und hast genug für dein Leben," sagte das Männlein.
"Gott vergelt's, Gott vergelt's", dankte die Bauerntochter.
"Aber nicht heiraten darfst!" befahl das Männlein.
"Ja, ja", versprach die Bauerntochter, eilte nach Hause, und
während der Nacht grub sie nach. Und richtig - drei Häfen mit
Gold gefüllt konnte sie mit in ihre Kammer nehmen.
Einige Jahre vergingen. Beide vergaßen die Worte des Männleins. Der Bauer heiratete jenes Bauernmädchen. Das junge Ehepaar war glücklich. Drei Knaben und ein Mädchen schenkte ihnen Gott.
Dreizehn Jahre waren verstrichen seit jenem Tage, an dem sie mit dem Männlein auf der Stegner Brücke zusammen trafen. Auf einmal klopfte jemand an der Tür. "Herein!" sprach der Bauer. Da trat jenes Männlein ein.
"Ihr habt", begann es zu sprechen, "sehr schlecht euer Wort gehalten. Nun müßt ihr mit."
Jetzt erinnerten sich beide an das gegebene Wort.
"Wir haben aber vier Kinder und können daher nicht fortgehen," wendete der Bauer ein.
"Dann will ich von meiner Forderung abstehen", sprach das Männlein
und verschwand.
Quelle: Anton Schipflinger in: Tiroler Heimatblätter,
1938 Nr. 9/10, S. 290.
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner
näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger
Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler,
Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).