Das Totenmandl
Im Brixental hauste in alter Zeit ein mittelgroßes, bärtiges Männlein, das man Totenmandl nannte. Jede Begegnung wurde mit ihm ängstlich vermieden. Denn, so sagten die Leute, wer das Totenmandl sieht, muß innerhalb drei Stunden sterben. Da aber dieses Männlein nichts arbeitete, und von der Luft allein auch nicht leben konnte, so ging es betteln. Damit der Alte aber ja nicht in ein Haus kam, sperrte man die Türe zu und setzte das Essen für ihn vor die Tür. Dem Männlein tat dies nichts; er nahm das Essen und wenn es gegessen hatte, sagte er: "Gott vergelts, i kimm bald wieda."
Eine Bäuerin stellte einmal das Essen für das Männlein vor die Tür. Sie wollte nun die Tür zusperren - doch der Riegel war angenagelt. Bis man Rat wußte, was man tun könne, kam das Totenmännlein und trat in das Haus. Bauer und Bäuerin, Knechte und Dirnen ergriffen die Flucht. Das Mandl lachte sich in das Fäustchen und verzehrte alles, was in Küche, Speis und Keller zum Essen war. Dann zog das Totenmandl weiter.
Von den geflüchteten Hausbewonern wollte niemand als Erster in das Haus treten, "l gib dir die beste Kuh", sagte der Bauer zu einem seiner Knechte, "wenn du hineingehst und uns sagst, wie es drein ausschaut."
Der Knecht lehnte das Angebot ab. Niemand wollte es wagen, auch nur einen Schritt in das Haus zu machen.
Vor Sonnenuntergang wagten sie es doch, in das Haus zu treten. Bewaffnet
mit Hacken und Sensen betraten sie das Haus. Vom Männlein fanden
sie nichts; nur seine Spur in Küche, Speise und Keller entdeckten
sie. Doch dies war das Leichtere. - Gestorben ist keines; und auch vom
Totenmandl hörte man nie mehr etwas.
Quelle: Anton Schipflinger in: Sonntagsblatt Unterland
1936 Nr. 39, Unterländer Heimat (monatliche Beilage zum Sonntagsblatt
Unterland) Nr. 9, S. 7;
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner
näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger
Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler,
Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).