Die Hexe als Reh
Auf einer Walslichtung oberhalb der "broat'n Rief'n" bei Axams sah einst ein Jäger ein Reh liegen. Sofort legte er an, um es niederzuschießen. Da hob dasselbe bittend die Vorderfüße auf, während ihm die hellen Tränen aus den Augen rannen. Jetzt merkte der Jäger, daß es hier nicht mir rechten Dingen zugehe und gieng seines Weges, ohne dem Thier etwas zu Leide zu thun.
Nach einigen Monaten kam er auf den Markt nach Imst und kehrte dort in
einem Wirtshause ein. Hier wurde ihm zu seinem größten Erstaunen
ein reichliches Mahl vorgesetzt, wobei die Kellnerin versicherte, sie
selbst werde alles bezahlen. Als er sich dankend wieder entfernen wollte,
fragte ihm die Kellnerin, ob er sie denn nicht mehr kenne. Da es der Jäger
verneinte, erzählte sie ihm, daß sie früher eine Hexe
gewesen und auf einer ihrer Fahrten im Walde bei Axams vom Betläuten
überrascht worden sei. Deshalb habe sie sich müssen als Reh
"stellen". Wenn er sie damals erschossen hätte, so wäre
es um ihre Seele geschehen gewesen. Nun habe sie sich aber von jener Stunde
an gebessert und dem Teufel abgeschworen*).
*) Vgl. Zingerle, Sagen aus Tirol, Nr. 770
Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 106.