Der schwarze Stier
Auf der Alpe Naßdux wirtschaftete schon manchen Sommer hindurch ein Senner, dem ein großer, rother Stier, der beständig in die Kühe stach, viel Mühe und Verdruß machte.
In der Nähe de Hütte liegt ein kleiner smaragdgrüner Alpensee.
Als nun der Stier an dessen Ufer wieder einmal einer prächtigen Kuh
arg zusetzte, lief der Älpler zornig hinzu, packte ihn bei den Hörnern
und stieß das wüthende Thier in den See, wo es ertrank. Noch
in demselben Sommer starb der Melker. Von nun an gieng aber ein schwarzer
Stier auf der Alpe um, und der neue, junge Senner hatte seine liebe Noth
mit ihm. Der Bursche war noch nicht lange auf der Alm, als ihm in der
Nacht vom Samstag auf den Sonntag der verstorbenen, ihm wohlbekannte Melker
erschein. Als sich nach acht Tagen die Erscheinung wiederholte, faßte
sich der Senner ein Herz und fragte den Geist, wie er ihn erlösen
könnte. Da bar ihn derselbe inständig, den schwarzen Stier,
sobald er mit einer Kuh bei dem See stehe, ins Wasser hineinzujagen. Der
Senner beobachtete nun aufmerksam jenen Geisterstier und als er ihn am
See stechen sah, besann er sich nicht lange und trieb ihn hinein. Gleich
in der nächsten nacht erschien ihm der Geist wieder und zwar in blendendweißem
Kleide, dankte ihm innig für seine Erlösung und sagte zu demselben,
er habe als schwarzer Stier so lange umgehen müssen, bis ihn der
Senner in den See getrieben habe.
Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 40.