Die Stieraugen
Am Finkenberg im Zillerthale liegt eine Alm, auf der sich vor Zeiten ein riesiger Geisterstier herumtrieb. Er war am ganzen Leibe schwarz, nur auf der Stirne hatte er einen weißen Fleck. Der Almputz richtete unter dem Vieh großen Schaden an und war auch von den Älplern und Jägern sehr gefürchtet. Da kam zufällig ein Kapuziner auf die Alpe und ihm klagten die Senner ihre Noth. Der Mönch versicherte dieselben, falls sie seinem Rathe folgen würden, die Alm von dem Geisterstier zu befreien. Sie sollten nämlich sieben Jahre hindurch ein mit dem Unthier ganz gleich gefärbtes Stierkalb aufzüchten und es mit immer neuen Kühen säugen.
Die Senner thaten genau, was ihnen der fromme Pater gerathen hatte. Das
Kalb wurde mit der Zeit so groß, daß es mit dem Rücken
bis zur Stalldiele reichte. Gerade über ihm stand in der Scheune
die Kuh, zu welcher es durch ein Loch hinauflangen konnte, um zu saugen.
Endlich waten die sieben Jahre um, und man ließ das so mühsam
aufgezogene Ungethüm laufen, wohin es wollte; es rannte sofort dem
Joche zu, während der Almputz vom Naßdux heaufkam. Als die
beiden zusammentrafen, fiengen sie an, wüthend ineinanderzustechen.
Dieser Kampf dauerte aber nicht lange, denn die versanken plötzlich
in den boden. Seitdem sieht man an jener Stelle, wo die Stiere gekämpft
hatte zwei Laken dicht nebeneinander, die "Stieraugen" genannt.
Auch diese Pfützen werden einst, wenn sie fast ganz zugewachsen sind,
ausbrechen und ihre Wasser sich verheerend über Schwendau ergießen.
Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer
Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von
Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 112.