Das Venediger Männlein auf dem hohen Anlass
Ein Thaurer Geißhirt saß einmal unter einem Strauch auf dem hohen Anlass bei Hall und schaute vergnügt in die Weite. Da kroch unter ihm ein winziges Männlein den Abhang herauf, in schwarzen Sammt [Samt] gekleidet und mit seltsamen Schnallenschuhen. Als es oben war und den Hirten erblickte, fragte es ihn nach dem hohen Anlass. Der Hirte antwortete:
"Da brauchst du nimmer weit zu gehen, wir stehen schon mit beiden Füßen drauf."
Das Männlein warf sein Bündel auf den Boden, trocknete sich den Schweiß ab und begann mit seinem Bergspiegel in den Berg zu lugen. Bald hatte er die rechte Stelle entdeckt, schnitt ein Rasenstück aus und machte ans der feuchten rothen [roten] Erde dreizehn Kugeln. Zwölf davon schob er in sein Bündel, die dreizehnte schenkte er dem Hirten dafür, dass er ihm das Bündel zu tragen versprach. Darauf verschloss er die Öffnung im Boden mit dem Rasenstück so geschickt, dass niemand etwas merken konnte, und sie stiegen den Berg hinab bis zur Thaurer Sennhütte, wo der Hirt vom Männlein Abschied nahm.
Als der Hirte später einmal sein Abenteuer einem Bergmann in Hall
erzählte und die Kugel erwähnte, die er daheim aufbewahrte,
verlangte der andere sie zu sehen. Und siehe da, die Kugel, die mittlerweile
steinhart geworden war, enthielt soviel Gold, dass das Münzamt in
Hall dem überraschten Hirten zweitausend Gulden dafür auszahlte.
Damit kaufte sich der glückliche Bursche ein Bauerngut, verheiratete
sich und wirtschaftete in Ehren. Er war wohl auch wieder auf den hohen
Anlass gestiegen, konnte jedoch den Platz nimmer finden, wo der Zwerg
die Golderde herausgenommen hatte.
Quelle: Volkssagen, Bräuche
und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf
Heyl, Brixen 1897,
Nr. 58, S. 96f