Büßende Senner auf den Stubaier Almen
1.
Auf der Mutterberger Alm in Stubai sieht man zuweilen in mondhellen Nächten einen schwarzen Stier mit weißem Stirnfleck; es ist der Geist eines Senners, der das Vieh misshandelt hat. Zur Strafe dafür muss er als Stier umgehen; er kann jedoch erlöst werden, weil er ein "Zintl" ist, d. h. einen weißen Stirnfleck hat.
2.
Zu Grabach sieht man hie und da eine Fackelsau. Es war dort einmal ein Hirte, der die fremden Schweine Hunger leiden ließ, wahrend er seine eigenen gut fütterte. Er wurde dafür nach seinem Tode in eine Fackelsau verwandelt und muss als solche bis zum jüngsten Tage umgehen.
3.
Auf der "Schongelvar"'Alm zeigt sich manchmal ein graues Männlein, das aber nicht bösartig ist; deswegen lassen es die Almer nicht ungerne im Heu übernachten. Man nennt es "Schongloar-Gilgl". Die Leute vermuthen [vermuten], dass es der Geist eines Kuhhirten ist, der Milch veruntreut hat.
4.
Auf der Autenalm, gerade ober Neustift, wohnt ein gespenstiges Wesen; mau nennt es "Autens Breatlecke". Hin und wieder rumort dasselbe ganz fürchterlich.
5.
Zu Nuirat (Neuraut) sieht man manchmal einen Hund. Man braucht nur längere Zeit nach Betläuten zu horchen, dann hört man pfeifen: pfeift man auch, so erscheint ein gespenstiger Hund. Man nennt ihn den "Nuirat-Würstler": es ist der Geist eines ungetreuen Hirten.
6.
Auf der Kuhalm zu Oberiss haben sie vor etwa 20 Jahren einen Stier gehabt,
der den Kühen die Milch aus dem Euter soff. Aus dem Grunde verkauften
sie den Stier nach Milders hinter Neustift, dort aber setzte er sein Diebshandwerk
fort. Einmal ertappte ihn eine Dirne auf frischer That [Tat] und gieng
mit dem Stecken ernstlich auf ihn los. Da war er plötzlich spurlos
verschwunden. Es ist der Geist eines Senners gewesen, der die Kühe
heimlich im Walde gemolken und dadurch die Eigenthümer [Eigentümer]
derselben geschädigt hat.
Quelle: Volkssagen, Bräuche
und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf
Heyl, Brixen 1897,
Nr. 30, S. 70f