DAS GNADENBILD IN AMRAS
Vor langer Zeit trug es sich einmal zu, daß ein Fürst auf dem Schlosse Amras herbergte. Da wurde ihm zu Ehren im Schloßhof viel Kurzweil getrieben, und des Fürsten Knäblein sah von einem Fenster des zweiten Stockwerkes zu. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in den Hof. Es war ihm im Fallen, als ob die Muttergottes unten stehe und ihn in ihrer Arme auffange. Daher geschah ihm vom Falle kein Leid. Als seine Eltern davon Kunde bekamen, ließen sie von einem Künstler die Muttergottes schnitzen und das Christuskind dazu, so als ob sie es mit ihren Armen auffange. Dieses Bild wurde der Kirche in Amras geschenkt und steht dort noch heute auf dem Hochaltar. Das Volk gewann alsbald große Andacht zu der Gnadenmutter, und viele fanden in Gefahr und Trübsal Hilfe und Erhörung.
Mit der Zeit war aber die Welt immer lauter und sündhafter geworden, und ob der großen Frevel, die geschahen, kehrte sich auf einmal das Christkind in Amras in den armen seiner seligen Mutter um, so daß sein Antlitz von den Menschen abgewendet blieb.
Da lebte einmal in Baiern ein offener Sünder, der diente der Welt und dem bösen Geiste viel Jahre lang ohne Reue und Beicht und war des wilden Herzens. Da ihn aber der allmächtige Gott um seiner Barmherzigkeit willen nicht wollte verloren sein lassen, darum so hieß Gott den bösen Feind zurückstehen und machte, daß der Sünder Reue gewann über seine Sünden. Da begegnete er einem Priester und fragte ihn, was Arbeit er über sich nehmen müßte, um für seine Sünden rechte Buße zu wirken. Und der Priester sagte: "Nun bitt Gott mit Ernst für dich deiner Sünden wegen!" Darauf erwiderte der Sünder: "Wie soll ich Gott für mich bitten und kann doch kein Gebet ?" Da sprach jener: "In der Kirche zu Amras in Tirol steht unserer Frauen Bild; die hat ihr liebes Kind auf dem Arm, und zu dem bet' also: "Minniglicher Herr der Barmherzigkeit, du bist um der Sünder willen Mensch geworden, also erbarme dich über mich armen Sünder!" Da war der Sünder von seinen Worten froh, pilgerte nach Amras in die Kirche und betete mit großem Ernst das Gebet. Aber das Christusbild kehrte sich auf einmal von ihm weg zu seiner Mutter, weil es sein Bitten verschmähte, und sprach: "Hörst du, meine allerliebste Mutter, das wunderliche Ding, daß mich der große Sünder um Gnade bittet und hat mir doch in seinem Leben keinen Dienst gethan ?" Da sprach unsere liebe Frau: "Mein allerliebster Sohn, daß dir der Sünder keinen Dienst gethan hat, ist ihm nicht zu verweisen, denn er ward gar schier seiner Eltern beraubt, die sollten ihm beten gelehrt." Aber das göttliche Kind sprach darwider: "Du meine allerliebste Mutter, du sollst mich nicht für den Sünder bitten, denn er hat mir manche Seele entfremdet; darum hab' ich kein Erbarmen über ihn." Da sagte die liebe Frau zu ihrem Kind: "Es steht geschrieben, daß niemand, so mit Sünden beladen ist, der Ablaß versagt werde, denn Deine Barmherzigkeit soll größer sein, als aller Menschen Sünde. Darum, mein geliebtester Sohn, so bitte ich dich, daß du es durch meinen Willen thuest und durch deines guten Freundes Willen, der ihn hergewiesen hat." Da sprach aber das Kind: "Allerliebste Mutter mein, es stünde mir unziemlich, wollte ich dir ein Ding versagen, das du mich durch deinen Willen bittest. Was du mich gebeten hast, des sei gewährt!"
Und weil der Sünder noch vor dem Altare kniete und eine herzliche Reue hatte, da stieg die Muttergottes samnmt dem Kindlein vom Altar herab zu ihm, das Kindlein aber stand auf und wandte seinen Kopf, sodaß sein Antlitz dem Sünder zugekehrt war, und die hilfreiche Mutter erzählte ihm, daß ihr allerliebster Sohn seine Sünden verziehen habe, nur daß er sie fürbaß nimmer thun sollte. Zum Zeichen dafür legte sie ihre Hand auf den Kopf des Sünders. Seitdem verblieb des Kindleins Kopf ein wenig erhoben und wieder dem Volke zugekehrt.
Darauf lief der Sünder wiederzu dem Priester und schrie ihn an: "Steh eine Weile still !" Das that er und hörte sein Wort. Da erzählte der Sünder alles, was ihm in der Kirche zu Amras widerfahren war, beichtete ihm hierauf mit großem Fleiß seine Sünden und diente fürbaß Gott mit Ernst und mit Andacht. Aus Dankbarkeit ließ er ein Bild malen, auf dem die Muttergottes sammt dem Kindlein so dargestellt ist, wie sie vom Altar herab zu ihm gekommen war, und hängte es in der Kirche zu Amras unter der Kanzel auf. Daselbst ist es noch zu sehen.
Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen
aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. II / 1, Seite 42f.