Von den Gespenstern in der Wildschönau

In alten Zeiten gieng in Wildschönau ein greuliches Gespenst um, das im ganzen Thal [Tal] überaus gefürchtet war, so dass noch jetzt die Erinnerung daran allenthalben fortlebt. Es war grau, und man konnte an ihm weder Kopf noch Arme unterscheiden, jedoch sah man schon von weitem im Dunkel der Nacht seine schrecklich glühenden Augen.

Langsamen Schrittes durchmaß es allnächtlich jahraus jahrein das Thal [sic] in seiner ganzen Länge, am Anfang winzig klein, mit jedem Schritte wachsend und zuletzt am hintersten Ende des Thales. wo es wieder zu verschwinden pflegte, so unendlich groß, dass es bis zum Himmel reichte. Es ist schon lange her, seit dieses Gespenst zum letztenmale die Wildschönau durchwandert hat; wohin es gekommen und warum es ausgeblieben ist, das weiß niemand.

Die "Weißensonntagskinder" sind Geisterseher, aber wieder nur diejenigen unter ihnen, welche am weißen Sonntag um sechs Uhr morgens auf die Welt gekommen sind. So erzählte ein Weißsonntagskind meinem Gewährsmann, dass sie, es war eine Frauensperson, als sie um Mitternacht den Doctor [Doktor] holen gieng, wirklich auf einer Mühlrinne einen Geist sitzen sah. Er war kurz und unförmlich dick und hatte einen breitkrämpigen Hut auf dem Kopf. Die Person getraute sich nur schwer vorbei und wäre sicher nicht vorbeigelaufen, wenn nicht ihre Mutter schon in die letzten Züge gegriffen hätte. Das Gespenst sprang auf der Rinne hin und her und schaute die Dirne unverrücks an.

Unwillkürlich erinnert man sich dabei an das Wildschönauer Liedchen:

Itz hert's, wea do mir wiel:
Os hockt a Mannl auf da Miüel,
Hot a gscheibiögs Hüatl off,
Um and um voll Fedan droff,
Gigerie gie, spring davon,
Ass da da Geist nit schodn kon!

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 15, S. 58