Die Stubaier Ung'schicht
In früheren Zeiten hatte beinahe jede Almhütte ihre Wichtelen oder "Ung'schicht", jetzt aber sind sie auf die höheren Berge gezogen, weil der Unglaube überhand nimmt. Hie und da jedoch, wenn es oben recht wettert, kommen sie auf Besuch herunter. Sie sind aber dann unsichtbar, und man vernimmt nur auf einmal hinter der Ofenbank ein Knistern und Kratzen, manchmal hört man sie auch lachen oder weinen. Es sind ungetaufte Kinder.
Vor vielen vielen Jahren war einmal die Pest in Stubai, und die Leichen lagen von der Pfarrkirche zu Telfes bis zum Ende des ziemlich langen Dorfes. Dazumal war nämlich zu Telfes die einzige Kirche im Thale [Tale]. Nach und nach sind alle Personen ausgestorben bis auf zwei alte Leute in Neustift; diese saßen eines Abends vor der Thür [Tür] ihrer hölzernen Hütte und besprachen sich eben, was aus ihnen werden solle. Da kam ein spannenlanges Mannl und sang:
I bin so grau und bin so alt,
Denk Spitzwies' zweimal Wies' und zweimal Wald:
Esst Kranewit und Bibernell,
Dann packt enk der Tisel nöt so schnell.
Darauf verschand das Ung'schicht wieder. Sie aßen beide Kranewitbeeren
und Bibernell und blieben von der Seuche verschont. Später kam das
"Ung'schichtl" öfters zum alten Ehepaar auf "Hoangart",
insbesondere, wenn draußen die Flocken wirbelten und der Gletschersturm
heulte. Er setzte sich dann zu ihnen auf die Ofenbank und gab manchen
guten Rath [Rat] über Feldbau und Viehzucht.
Es gibt aber auch bösartige Norggen. So hat erst vor einem Jahre
ein solches Ding bei einem Bauern zu Vergör zwei Kühe an eine
Kette gehängt. Zufällig war der Hirt zugegen. Er legte zwei
Weidenstöcke in Form eines Kreuzes über die Kette, und sofort
sprang diese auseinander.
Beim Buckeler zu Telfes trieb noch vor wenigen Jahren ein Ung'schicht
seinen Schabernack. Es löschte nächtlicher Weile die Lichter
in der Stube aus, peinigte die melkenden Knechte, warf Steine auf die
Leute und anderes mehr. Je mehr sich die Leute fürchteten, desto
unbändiger musste der Wicht lachen. Auch beim Tannerbauern zu Telfes
geschah im verflossenen Jahre ähnlicher Spuk, jedoch ist man dort
im Zweifel, ob es der Norgg oder arme Seelen waren oder gar etwa der -
Teufel, wie manche behaupten.
Tisel = "Virus", Ansteckungskrankheit
Quelle: Volkssagen, Bräuche
und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf
Heyl, Brixen 1897,
Nr. 46, S. 84f