Wie meine Mutter einmal mir die Karten aufschlug
Auch mir hat die Mutter einmal die Karten aufgeschlagen. Ich war damals ein Bub von etwa 15 Jahren, und wir hausierten gerade in Ried im obersten Inntal. Dreierlei hat sie damals aus den Karten gelesen, und alles hat genau zugetroffen oder ist genau eingetreten.
Das erste betraf ein Herzensgeheimnis von mir. "Du Spitzbub!" sagte sie, "so jung und schon so verliebt, und noch dazu in zwei Mädels!" Das war auch tatsächlich der Fall, denn ich war in die zwei schönsten Mädels von Imst arg verliebt, in die Tochter des Bezirkshauptmannes und in die Tochter des Oberlehrers.
Als zweites las sie aus den Karten, daß ich heute noch von einer bekannten Frau ein Geschenk bekommen werde. Und tatsächlich, als wir heimwanderten und hausierend nach Kronburg kamen, war dort eine Frau Schwaighofer in der Sommerfrische, und weil sie mich immer gut leiden hatte können, schenkte sie mir einen Gulden.
Das dritte, das die Mutter aus den Karten prophezeite, war weniger erfreulich.
"Wenn wir heimkommen", sagte sie, "wird ein Brief daheim
sein, daß deinem Bruder etwas Übles widerfahren ist und er
in großer Gefahr schwebt". - Als wir daheim in die Stube traten,
war wirklich ein Brief da, und darin war vom Mißgeschick erzählt,
das meinem Bruder, der in Innsbruck beim Militär diente, zugestoßen
war. Man hatte ihn zum Wachdienst am Bergisel eingeteilt, er aber war
in aller Gemütlichkeit von seinem Posten weggegangen. Zu seinem Unglück
begegnete er einem Offizier. Als der ihn anhalten wollte, lief mein Bruder
davon, der Offizier rannte ihm nach und schlug ihm mit dem Säbel
über den Hinterkopf, daß er mit einer schweren Wunde lange
Zeit im Spital liegen mußte und in Lebensgefahr schwebte.
Erzähler: der Imster Mundartdichter Jakob Kopp
Erzählt: Sommer 1940