Meine Großmutter erscheint in ihrer Sterbestunde

Meine Mutter hat oft erzählt, wie sich die Großmutter beim Sterben gemahrt hat. An dem Abend, da dies geschah, war Vater ausgegangen, Mutter hatte sich niedergelegt und erwartete sein Heimkommen. In der gleichen Kammer stand an der Wand ein Kinderbettlein, in dem meine Schwester Maria, die später den Wöll geheiratet hat, längst tief schlief. Es war schon 11 Uhr nachts, aber meine Mutter war noch völlig wach und munter. Da ging auf einmal die Tür auf und herein trat die Großmutter. Mutter war überrascht, die Grußmutter, die doch in dem mehrere Stunden entfernten Ötz lebte, mitten in der Nacht kommen zu sehen, und frage verwundert: "Ja, Mutter, was tust denn du da?" Die Großmutter gab ihr darauf keine Antwort, trat zum Kinderbettlein hin und neigte sich über das schlafende Kind. Darauf war sie plötzlich verschwunden. Meine Mutter bekam begreiflicherweise Angst und Sorge, und als bald darauf Vater aus dem Wirtshaus heimkam, sagte Mutter zu ihm: "Mit meiner Mutter muß etwas nicht in Ordnung sein, sie ist dagewesen". - Am nächsten Tag kam die Botschaft aus dem Ötztal, daß Großmutter um 11 Uhr nachts, also genau zur gleichen Stunde, in der sie der Mutter erschienen war, gestorben sei.

Erzähler: der Imster Mundartdichter Jakob Kopp
Erzählt: Sommer 1940

Quelle: Adalbert Koch, Ein Beitrag zur Oberinntaler Sagenkunde, in: Tiroler Heimatblätter, Heft 7 / 9, 1966, S. 94 - 97.