DAS GESPENST IN DER ALTSTADT
Im Jahre 1585, drei Jahre nach der Vermählung Erzherzog Ferdinand II. mit Anna Katharina von Mantua, wurde unser altes Innsbruck durch von Mund zu Mund gehende Gespenstergeschichten in eine nicht geringe Aufregung versetzt. Man erzählte von einem Geist, der in mitternächtlicher Zeit regelmäßig die Wächter und die Bürger, so sich noch spät auf der Straße sehen ließen, erschreckte.
Das Gerede nahm solchen Umfang an, daß der ehrsame Rat beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen und den Stadtrichter Reichart, der nebenbei ein wohlbestallter Gastwirt war, zu beauftragen, die Nachtwächter hierüber protokollarisch einzuvernehmen.
Damals war die Stadt in der Nacht in Dunkel gehüllt - nur bei besonderen Anlässen oder Feuersbrünsten steckte man Pechfackeln an bestimmte Häuserecken. Für gewöhnlich behalf sich der Bürger, wenn er spät die Gassen durchwanderte, mit einem blechernen Baumwollämpchen.
Solcher Lämpchen bedienten sich auch die Stadtwächter, deren je zwei das Vorstadttor, Pickentor, Inntor und Saggentor bewachten und einen bestimmten Weg zu durchwandern hatten, wobei sie sich nicht aus der Hörweite ihrer Kameraden entfernen durften. Die Wächter riefen die Stunden aus. Das bekannte "Hört, ihr Herren, laßt euch sagen!" hat auch bei uns durch die Jahrhunderte geklungen.
Innsbruck um die Mitte des 17. Jahrhunderts
Nach einem Augsburger Kupferstich vom Jahre 1649
Sammlung Stadtarchiv Innsbruck
Der Richter lud also befehlsgemäß am 15. Juli 1585 sämtliche
Nachtwächter und Aufleger aufs Rathaus in seine Amtsstube, um von
jedem einzelnen über das "Ungeheuer" - wie er es nannte
-, das dem Gerede nach in der Altstadt regelmäßig erschien,
Näheres zu erfahren. Was dann die phantasiereichen Wächter ausgesagt,
hat er getreulich niedergeschrieben und das Schriftstück hernach
seiner Behörde, dem ehrsamen Rate, vorgelegt. Von dort ist es ins
Archiv gekommen, wo es bis heute wohlgeborgen ruht.
Der Aufleger Sailer, als erster der Vernommenen, gab zu Protokoll, er habe am letzten Samstag nach Mitternacht beim Spezger Jakob Stemmer unter den Lauben eine etwas seltsame Gestalt erblickt: lang, kohlschwarz, den linken Fuß etwas nachziehend, worüber er sich entsetzte und eine allzugroße Annäherung vermied. Der zweite Zeuge, Paul Schröfferl, der eine ähnliche Erscheinung hatte, vermeinte bei genauerem Zusehen ein Schwein mit großem runden Kopfe zu erblicken, das sich schließlich an ihn herandrängte, wobei er sogar die harten Borsten fühlte. Ein andermal war ihm, als hätte sich das Schwein in einen großen Hund verwandelt, der auf einem der "neun Stösseln" saß.
Diese "neun Stösseln" oder auch Kögel genannt - kegelförmige, oben abgerundete Steine -, von denen kein Mensch weiß, was sie eigentlich bedeuten, standen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Bogen des Trautsonhauses. Also der Paul Schröferl schlich sich zu den neun Stösseln hin, worauf die hündische Gestalt aufs holprige Straßenpflaster und von dort in die Ritschen, die offen durch die Altstadt floß, sprang und wie ein Kind "rerte".
Graffiti Geist Innsbruck
© Berit Mrugalska, 17. Jänner 2004
War der Geist bisher immer nur einem Wächter erschienen, beim Lang und beim Leiwieser wich er von seiner Gewohnheit ab und kam beiden in einer Form, die sie nicht zu erkennen vermochten, brausend entgegen. Beinahe hätte der Geist die beiden Angsthasen mitgenommen.
Der Wächter Verono erwies sich als etwas mutiger, denn als ihm das Gespenst erschien, ging er ihm beherzt entgegen. Diesmal war es ein großer schwarzer Pudel, der aus den Gewölben herauskam und nun das Narrenhäusel, das sich an den Platzturm anlehnte, strich. Der Pudel sprang in die Ritsche, wo er zu plantschen begann, nahm etwas später die Gestalt einer schwarzen Katze mit feurigen Augen an, vom Wächter des Wappenturms bis tief in das Stallgässel vergeblich verfolgt. Konrad Egger aber sah ursprünglich ein großes Kalb, das sich bei seinem Nähertreten in ein Schwein verwandelte und ein "Gschmachl" hinterließ, von dem der Wächter fast krank geworden.
Der Leitner vermochte die tierische Gestalt, in der ihm der Geist erschien, nicht näher zu beschreiben. Er glaubte ein Untier gesehen zu haben, das sich unter dem Sarntheinbogen, mit Respekt zu sagen, auf den hinteren Teil setzte - das Orginalwort des Protokolls ist schwer wiederzugeben - und die lange rote Zunge herausstreckte, welche Ungezogenheit den Leitner zum Rückzug bewog.
Als Andrä Weingartner in ernster Erfassung seines Dienstes bei den "steinernen Kögeln" ein kleines Schläfchen wagte, wurde er durch einen großen Hund erweckt, der seine Pfote auf des Wächters Schafpelz legte, dabei habe Weingartner sich nicht anders zu helfen gewußt, als das Zeichen des Kreuzes zu schlagen, worauf sich das Getier, dessen großen Kopf er erst im letzten Augenblick bemerkte, langsam verzog.
Ein weiterer Zeuge gestand bei einiger Nachhilfe ein, seinen Kopf ein wenig an die Wand gelegt zu haben, worauf ein schwarzer Mann zu ihm gekommen, ihm einen Renner gegeben und auf die Gasse hinausgedrängt habe, daß er eine ganze Stunde "nicht zum Zeug (Besinnung) gekommen".
Der letzte Zeuge, Jörg Wiesenheil, der auch mit dem Gespenst zusammentraf, erkannte deutlich die Umrisse eines schwarzen Mannes, von dem ein schwaches Leuchten, wie aus "fauligem" Holze ausging. Der Wächter hat wirklich den Mut gehabt, die Erscheinung mit den Worten zu stellen: "Ist dir zu helfen, so enthebe dich im Namen Gottes!" Dieser Spruch hat aber nicht helfen wollen, so daß er zu stärkeren Mitteln greifen mußte. Erst als er ihn mit "Achitz! So geh fort in all Teufels Namen!" beschwörte, hat sich die Erscheinung verzogen. Darnach habe es ein Uhr geschlagen und er sei ganz naß in die Wachstube gekommen und habe sich "nicht verwißt", wer ihn in die Ritschen hineingestoßen. Mit dieser Auslage beschloß der Richter das Protokoll.
Stadtrichter Reichart, ein gewissenhafter Mann, gab sich jedoch damit nicht zufrieden, er wollte sich mit eigenen Augen von dem Ungeheuer überzeugen, das bald schwarz, bald grau gewesen, bald die Form einer Katze, eines Hundes, Kalbes oder eines Schweines annahm, das feurige Augen, eine lange rote Zunge und einen hinkenden Fuß aufwies, das sich aber im Grunde gar nicht so schlimm betrug, als höchstens die paarmal, wo es den geruhigen Schlaf der Nachtwächter störte, und das einemal, wo es ein "Gschmachl" hinterließ.
Der Stadtrichter, in Begleitung seiner Gerichtsdiener, alle bis auf die Zähne bewaffnet, wachten nun durch mehrere Tage der nächsten Wochen, aber sie hatten kein Glück; das Ungeheuer wollte offenbar mit dem Stadtrichter nichts zu tun haben, vielleicht hatte schon Jörg Wiesenheil mit seiner Beschwörung: "Achitz, so geh in Teufels Namen fort!", das richtige getroffen und das Gespenst ein für allemal verscheucht, denn seit jener Stunde hat sich der "Achitz" in Alt-Innsbruck nicht mehr blicken lassen.
Quelle: Innsprugg. Bürger. Bauten. Brauchtum.
Gesammelte heimatkundliche Schilderungen. Von Hans Hörtnagel. Innsbruck
1932. Seite 44