Die Messe um Mitternacht
Im Jahre 1901 lernten wir die achtzigjährige pensionierte Lehrerin Marie X aus Mils kennen, eine noch sehr rüstige alte Dame. Sie erzählte uns folgendes: eine meiner Kameradinnen aus der Jugendzeit, also Ende der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts, war beim Mühlinger im Volderwald daheim. An einem Sommerabend war sie, von der Feldarbeit ermüdet, schon um 7 Uhr zur Ruhe gegangen. Sie hatte einige Stunden geschlafen, als sie der zum Kammerfenster hereinscheindende Vollmond weckte. Vermutend, daß es schon früh am Morgen sei, stand sie auf und machte sich fertig um Kirchgang nach Hall. Wie sie ihres Weges ging, holte sie beim Borgias-Kirchlein mehrere Schwarzgekleidete Damen ein, die sonderbare Kopfbedeckungen trugen und laut beteten. Mein Freundin bat mitgehen zu dürfen. Das wurde ihr mit Kopfnicken erlaubt.
Burg Hasegg, der Haller Münzturm
Zeugnis einer Zeit, in der Hall bedeutender als Innsbruck war
© Berit Mrugalska, 4. Juni 2004
Als sie über die Innbrücke gingen und sich der alten Burg
Hasegg näherten, sagten die Damen, daß sie nach der Kirche
des Königlichen Stiftes wollten. Meine Freundin meinte: Ja, da ist
nichts mehr. Die Damen sahen sich daraufhin lächelnd an und antworteten
nicht. Als sie über den kurzen Graben hinauf dem Stiftsplatze zuschritten,
hörten sie schon Orgelklang aus der Stiftskirche, deren Fenster hell
erleuchtet waren. Die Kirche war mit einer Menge Menschen gefüllt.
Merkwürdigerweise lag beim Komuniongitter aufgeschichtet eine Menge
getrockneter Stockfische. Eine Dame forderte meine Freundin auf, davon
zu nehmen. Sie getraute sich aber nicht, weil sie sich vor den ledergelben
Gesichtern und der seltsamen Kleidung der Anwesenden fürchtete. Als
sie ablehnte, hörte sie einen schmerzlichen Schrei aus vielen Kehlen,
die Stockfische versanken vor ihren Augen in die Tiefe, die Lichter erloschen
und sie befand sich allein in der leeren Stiftskirche. Nur der Mond beleuchtete
das Kircheninnere und sie sah, daß das Hauptportal offen stand.
Sie eilte hinaus und hinüber zum Josefs-Kirchlein neben der Stadtpfarrkiche,
wo sie sich beim inbrünstigen Gebet für die Armen Seelen von
ihrem Schrecken erholte.
Quelle: Geistererscheinungen im Haller Damenstift, nach anvertrauten Aufzeichnungen des Frl. Ida Feuerstein, Oberstaatsbibliothekar Dr. Hans Hochenegg, Tiroler Heimatblätter, Heft 7/9 1955, S. 91.