Der Zirler Goaßer als Glücksbote
Auf dem Wege von Judenstein gegen Tulfes liegt ein großes Bauernhaus, der Mehrerhof. Dort saßen schon seit Jahrhunderten die Mehrerbauern angesehen und wohlhabend, bis einer der Besitzer zu Beginn des 19. Jahrhunderts in schwere Bedrängnis kam. Kriegszeiten, Mißjahre und anderes Ungemach hatten den Wohlstand des Hauses untergraben, und der rechtschaffene Mehrerbauer lebte in großer Sorge, ob er den von den Vätern ererbten Hof seinen Kindern weiter erhalten könne.
Da hatte der Bauer drei Nächte hintereinander den gleichen merkwürdigen Traum. Er hörte eine Stimme, die ihm zurief: "Geh morgen hinauf zur Zirler Innbrücke, dort wirst du dein Glück machen!" Der Bauer, der sonst auf Träume nichts gab, beschloß in seiner Not, dem seltsamen Ruf zu folgen; nützt's nichts, dachte er sich, so schadet's auch nichts.
Schon in der ersten Morgenstunde machte sich der Mehrerbauer auf und ging zu Fuß den weiten Weg bis zur Zirler Brücke, wo er bei Tagesanbruch ankam. Der erste Mensch, der ihm begegnete, war der Zirler Goaßer, der seine Ziegen auf die Weide trieb und den ihm unbekannten Bauern mit einem hellen Juchezer begrüßte. Der Mehrerbauer blieb den ganzen Tag über auf der Brücke, um auf sein Glück zu warten. Aber so viele Leute und Fuhrwerke tagsüber vorbeikamen, von seinem Glück erfuhr der Bauer nichts und wollte schon abends mißmutig wieder den Heimweg antreten, als beim Betläuten wieder der Zirler Goaßer erschien, der seine Tiere heimtrieb. Als der Bub den Mehrerbauern noch immer auf der Brücke sah, redete er ihn verwundert an: "Ja wie, stehst du denn noch alleweil auf der Bruggen? Auf was wartest denn no?"
Nun erzählte der Bauer dem Buben seinen seltsamen Traum von der Zirler Brücke. "Schau, schau!" meinte der Goaßer, "gibst du auf so einen Traum eppas? Denk dir, mir hat heut nacht auch was träumt, aber i pfeif drauf. I hab träumt, daß i in an großen Bauernhof, dem Mehrerhof, sitz und daß dort unter dem Kuchelherd ein großer Schatz vergraben ist. Aber i kenn weit und breit keinen Mehrerhof und laß den Schatz Schatz sein!" Mit einem herzhaften "Pfüat Gott!" verabschiedete sich darauf der Goaßer peitschenknallend vom Mehrerbauern.
Der aber wußte nun genug. Er eilte heim und begann noch in der
gleichen Nacht beim Schein einer Kerze seinen alten Küchenherd abzureißen.
Als der Bauer die Herdplatte abgehoben hatte, stieß er zu seiner
maßlosen Freude wirklich auf einen großen irdenen Topf, der
mit Gold- und Silbermünzen gefüllt war. Wahrscheinlich hatte
einer seiner Vorfahren in unsicheren Kriegszeiten im Herd sein Geld versteckt,
das nun in höchster Not dem Mehrerbauern zu Hilfe kam, um den heimatlichen
Hof zu retten. Den wackeren Zirler Goaßer wird aber der Mehrerbauer
in seinem Glück hoffentlich auch nicht vergessen haben.
Quelle: Die schönsten Tiroler Sagen, Karl Paulin, Innsbruck 1972