DAS WAISENMÄDCHEN AUS INZING


Am Ufer an der schnellen Melch
Ein traurig Mädchen saß;
Sie weint' - vor ihr den Leidenskelch -
Ins Gras von Tränen naß

Sie warf die Blumen, die sie brach,
Beständig in den Strom;
Sie rief: "Ach, lieber Vater, ach!
Ach, lieber Bruder, komm!"

Ein Reicher kam des Weg's daher,
Gewahret ihren Schmerz;
Er sieht das Mädchen weinen sehr,
Das rührt sein weiches Herz.

Er sprach zu ihr: "Mein liebes Kind,
Sag an, was klagst du hier,
Warum ich weinend dich hier find?
Kann's sein so helf ich dir."

Und trostlos seufzt das Mädchen da,
Und sprach: "Ach, braver Mann,
'ne arme Waise bin ich ja,
Der Gott nur helfen kann.

Der grüne Hügel dort entlang
Ist meiner Mutter Grab,
Und hier von diesem Ufer sank
Mein Vater einst hinab.

Die wilde Melch ergriff ihn, ach,
Er kämpfte und er sank.
Mein armer Bruder sprang ihm nach,
Und ach, auch er ertrank.

Jetzt flieh ich unser einsam Haus."
So klagt die arme Maid;
So schüttet sie den Kummer aus,
Das Herz voll Traurigkeit.

"O, weine nicht! "so sagt er da,
"Dein Herz verdient nicht Pein.
Ich will dein Freund, dein Bruder, ja,
Und auch dein Vater sein."

Dann nahm die Maid er bei der Hand,
Führt sie als Braut nach Haus,
Und tat ihr an des Ufers Rand
Die schlechten Kleider aus.

Jetzt hat sie reichlich Speis und Trank,
Wonach ihr Herz getracht.
Der reiche Mann verdient wohl Dank,
Daß er so edel dacht.


In verschiedenen Sagenverzeichnissen und im Zettelkatalog des Ferdinandeum wird auf diese Sage hingewiesen. In Inzing selbst habe ich sie nie erzählen gehört. Das "Gedicht" ist im "Innsbrucker Tagblatt" Jahrgang 1851[10], Seite 877 abgedruckt.

Quelle: Dorfbuch Inzing, Franz Pisch.

© Ernst Pisch.
Dieser urheberrechtsgeschützte Text wurde freundlicherweise von Ernst Pisch für SAGEN.at zur Verfügung gestellt.