Das Venediger-Mannl an den Goldseen
In alter Zeit kam von Venedig ein schon bejahrtes buckliges Männlein
durch mehrere Jahre hindurch auf den Kompatschhof. Seine Wohnung erhielt
es vom Bauer in einer Dachkammer. Seine Habseligkeiten bestanden aus zwei
Kleidern und etwas Leibwäsche. Außerdem führte er mit
sich ein sehr langes Seil, eine Kuhschelle (Kuhglocke) ohne Klengel und
zwei kleine Säcke. Das Männlein kam stets im Juli und blieb
noch im August. Schon am Tage nach der Ankunft stieg es zu den Goldseen
auf, nahm das Seil, die Kuhschelle und die beiden Säckchen mit. Wenn
es einen Hirten sah, wich es diesem in weitem Bogen aus. Abends kehrte
es wieder zum Hause zurück. Wenn schlechtes Wetter war, sperrte es
sich in seiner Kammer ein. Niemand durfte sie betreten und sie war stets
verschlossen. Kost und Miete zahlte er pünktlich und darum kümmerten
sich die Hofleute nicht weiter darum. Das ging einige Jahre. Mit der Zeit
wurde aber die Hofbäuerin neugierig. Sie verabredete mit dem Hirtenbuben,
daß er dem Männlein nachschleiche und sein Tun und Treiben
beobachte. Dieser konnte aber nur der Bäuerin erzählen, daß
sich das Mannl bei den Goldseen herumtreibe, und sobald es den Hirtenbuben
zu Gesicht bekomme, sei es wie verschwunden. Jetzt war die Neugierde der
Bäuerin auf die verschlossene Kammer gerichtet. Sie mußte hinter
das Geheimnis des Männleins kommen, selbst wenn sie die Kammertüre
mit Gewalt öffnen müßte. So geschah es, ein starker Ruck,
der Schließhaken gab nach und die Bäuerin stand in der Kammer.
Sie sah nichts Besonderes. Nur auf dem Tische war eines der beiden kleinen
Säckchen, angefüllt mit glänzendem Sand. Daneben war ein
kleines Häuflein grauer Sand. Dies war alles, was sie fand. Tags
darauf war das Männlein mit den Säckchen verschwunden. Es kam
nicht wieder. Nun glaubte man am Hofe, das Männlein sei gestorben,
da es in den nächsten Jahren nicht mehr kam. Die Zeit ging vorüber,
der älteste Sohn heiratete und übernahm den Hof und die anderen
Geschwister gingen in Dienste. Der jüngste Sohn wurde Fuhrknecht.
Als er einmal auf seinen Fahrten nach Venedig kam, traf er dort ein großes
Kaufhaus und ober dem Eingang einen schönen Schild, der den Namen
des ihm wohlbekannten buckligen Männleins trug, das er und seine
Familie längst für tot gehalten hatte. Er trat ein, machte sich
bekannt und das Venediger-Mannl erzählte :ihm nun von seiner früheren
Armut und seinem heutigen Reichtum, den er in Nauders aus den Goldseen
schöpfte. Das ist das Geheimnis der Goldseen, das er nun dem Jungen
verriet, und das die Hofbäuerin trotz des Einbruches in die Kammer
nicht herausbringen konnte.
Quelle: Dr. Hermann v. Tschiggfrey, Nauders am Reschen-Scheideck, Tirol, Innsbruck 1932, S. 46.