Die Jungfrauen vom Heiligen Baum
Vor alter Zeit war beim Heiligen Baum ein Turm. Dieser Turm soll durch einen unterirdischen Gang mit dem Schlosse verbunden gewesen sein und in diesem Turm sollen zwei Fräulein gewohnt haben. Diese Fräulein seien sehr niedliche kleine Geschöpfe gewesen und zur Zeit der Ernte haben sie den Bauern auf den Feldern geholfen, die Frucht einzubringen. Niemand aber durfte sie zur Marende (Jause, Vesperbrot) einladen oder ihnen ein Geschenk anbieten. Wer dies wagte, zu dem kamen sie nie wieder zur Arbeit.
Zur selben Zeit stand in Nauders bei der Kirche eine mächtige Linde. Bei dieser Linde sollen die Knaben gespielt haben. Sie durften jedoch nur spielen, bis die Abendglocke läutete, und dann mußten alle nach Hause gehen. Da schickte eines Tages eine Bäuerin ihren Jungen, der brennrote Haare hatte, zur Mühle, um das Mehl zu holen. Am Rückweg unterhielt sich der Junge mit den anderen Knaben bei der Linde bis gegen Abendläuten. Da kam eines der beiden Fräulein durch die Gasse herunter (heute Ortlergasse genannt) und winkte dem Jungen, der den ledernen Mehlsack auf dem Kopfe hatte. Er ging zu ihr und sie lud ihn ein, sie zu begleiten. Er folgte willig, und das Fräulein führte nun folgendes Gespräch:
Du bist noch ein Stamm aus unserem Geschlecht, du kannst uns erlösen, wenn du das vollbringst, was ich dir sage, sonst dauert es noch Jahrhunderte, bis der wieder geboren wird, der uns erlösen kann. Morgen, 12 Uhr nachts, komme zum Heiligen Baum und bleibe beim Turm stehen. Ich komme als Schlange vom Turm heraus, krieche an dir hinauf bis zur Schläfe und sobald dies vollzogen ist, sind ich und meine Schwester erlöst. Alle Schätze, die im Turm aufbewahrt sind, gehören dir. Sie wiederholte noch eindringlich: Schau mich nur an, die Schlange bin nur ich, habe keine Furcht, laß mich ruhig deine Schläfen berühren und schüttle mich ja nicht ab.
Es läutete gerade die Abendglocke, der Knabe versprach, alles zu
tun, was sie ihm sagte, und lief nach Hause. Eine schlaflose Nacht folgte
für den armen Jungen, auch tagsüber fand er keine Ruhe und dachte
ständig über das nach, was ihm das Fräulein gesagt hatte.
Als es Abend wurde, brach er auf und stand Punkt 12 Uhr nachts vor dem
Turm. Er hörte ein kleines Geräusch, und die Schlange kam an
ihn herangeschlichen. Sie schlängelte sich an seine Füße,
reckte sich empor über den Leib und erreichte seinen Arm. Da schüttelte
es den armen Jungen, ein Grausen erfaßte ihn, und die Schlange lag
am Boden. Im Turm entstand ein entsetzliches Gepolter, als ob man Tausende
von Glaskisten übereinander geworfen hätte, und die beiden Fräulein
weinten, daß es durch Mark und Bein ging. Sie flohen in die Berge
gegen Martannes und Plamort, und noch immer hörte der Junge das Klagen
und Weinen der beiden. Mit Schrecken und Grausen lief er nach Hause und
erzählte es der Mutter. Der Knabe erkrankte und nach drei Tagen war
er tot.
Quelle: Dr. Hermann v. Tschiggfrey, Nauders am Reschen-Scheideck, Tirol, Innsbruck 1932, S. 43.