Wie der Müller um seinen Esel kommt
In der Gegend von Nauders stand in der Nähe eines Wirtshauses eine
kleine Mühle, in der schlecht und recht ein kleines, durstiges Müllermännlein
hauste. Dieses hatte einen gutmüthigen [gutmütigen] grauen Esel.
Wenn das weiße Männlein mit seinem Grauthier [Grautier] nach
Nauders auf den Wochenmarkt fuhr, hatte es einen noch größeren
Durst als gewöhnlich, und jedermann wusste, dass das Müllerlein
an solchen Tagen des Müllerwirts liebster Gast war, weil er dort
so lange saß wie kein anderer. Der Müllerwirt hatte aber auch
einen echten Klebstoff, dass männiglich gern bei ihm trank.
Der Esel musste freilich vor dem Wirtshause dann oft recht lange warten,
aber die Esel rasten ja gerne und haben viel Geduld.
Also hatte das Müllerlein auf dem Kornmarkt wieder einmal seine Geschäfte, die es pflichtgemäß allemal zuerst abthat, hinter sich und saß schon im Wirtshaus, derweil das Grauthier draußen fleißig des Wirtes Boden düngte. Und er war nimmer bei der ersten Halben, als zwei Capuciner des Weges giengen, ein alter und ein junger. Und weil der alte schon etwas baufällig war und daher vom langen Wege hinkte, hieß ihn der junge auf den Esel steigen; so könne er wohl heute noch bis Münster kommen. Mit dem Müller, der sicherlich in der Gaststube zu finden wäre, werde schon er die Sache wegen des Esels in Richtigkeit bringen.
Also setzte sich der alte Bruder auf das Thier und ritt davon gegen Münster, Der jüngere aber, ein Spassvogel von Haus aus, stellte sich vor den Karren und that sich des Esels Geschirr um. So wartete er, bis der Müller sich vollgetrunken hatte und zur Thür heraustaumelte. Als er statt des Esels den braunen Bruder mit dem Spitzbärtchen vor dem Wagen erblickte, erschrak er nicht wenig, denn er glaubte, das habe er für sein Trinken.
Er fragte den Bruder, wer er denn sei, und was mit dem Esel geschehen
wäre. "Mein guter Müller," antwortete der Spassvogel.
"die Sache mit dem Esel steht schief. Ich bin mein Leben lang ein
Saufbruder gewesen wie du. daher wurde ich zur Strafe in einen Esel verwandelt
und habe die Zeit her als solcher deinen Karren gezogen und deine Säcke
geschleppt. Jetzt ist meine Strafzeit aus, und ich habe wieder menschliche
Gestalt bekommen. Allein, dass ich nicht wieder der alte Saufcumpan werde,
bin ich aus dem Saufbruder jetzt ein Klosterbruder geworden. In den darf
der Saufteufel nimmer hinein." Der Müller sah den Vorgang für
eine Strafe Gottes an und gelobte im Stillen, sich das Trinken abzuthun.
Er nahm dem Bruder das Geschirr ab und bot ihm noch die Zeit auf den Weg.
Leid war ihm nur, dass er jetzt keinen Esel mehr hatte. Er gieng daher
auf den nächsten Pferdemarkt nach Vinstgau [Vinschgau], um einen
anderen Esel zu kaufen. Als er nun so die Thiere musterte, fiel sein Blick
auf einen Esel, der seinem früheren auffallend ähnlich sah.
Verwundert betrachtete er ihn. Er hätte ihn auch gerne gekauft, aber
wie, wenn das Thier abermals verwandelt würde? Er wollte sich nun
Gewissheit verschaffen, ob der Esel derselbe sei, den er vorher gehabt,
oder nicht. Also nahm er das Thier und ließ es ein wenig laufen,
als wollte er es erproben. Bevor er aber wieder umkehrte, rief er dem
Esel zum Ohre hinein: "Ehrwürdiger Bruder, habt Ihr etwa schon
wieder zu tief ins Glas geschaut? Wenn, Ihr's seid, werde ich mich wohl
hüten, Euch zu kaufen."
Quelle: Volkssagen, Bräuche
und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf
Heyl, Brixen 1897,
Nr. 35, S. 30f