Die Wunderblume
Eine Sage vom alten Schloss im Steinwald bei Silz
Der "Silzer Gorl" galt als stiller und abseitiger Mensch, der am liebsten seine eigenen Wege ging und darum hin und da "für nicht ganz richtig" gehalten wurde.
Er war der Geißhirte des Dorfes. Jeden Tag in der Früh sammelte er, vom Sandbühel kommend, der Straße entlang seine Schützlinge.
Am Beginn der Trattergasse wartete der Jaggl, ein prächtiger Ziegenbock mit schneeweißem Bart, auf die Tiere.
Mit schiefgestelltem Kopf blickte er ihnen entgegen und setzte sich dann würdevoll an die Spitze der Herde. Zwischen Zäunen führte der Weg hinaus zum Berg, beim Schwöbbrunnen vorbei, hinauf zum Steinwald.
Gemächlich hinterdrein stapfte der Gorl. Beim Schwöbbrunnen vergaß er niemals, vom kühlen Wasser der Quelle zu trinken. Im Steinwald ließ er die Tiere weiden.
Er vergnügte sich damit, im verfallenen Gemäuer des alten Schlosses umher zu steigen und nach Beißwürmern und Eidechsen zu suchen.
Auch forschte er nach der Wunderblume, die, einer alten Volksmeinung nach, dort irgendwo im Erdinnern blühen und ihr Leuchten durch Klussen und Risse nach außen senden sollte. Sie konnte jedoch nur von einem Sonntagskind gefunden werden, das dann durch sie zu Glück und Wohlstand käme.
Und Gorl war ein Sonntagskind, das einzige des ganzen Dorfes.
Aber leider, weder die Krönlnatter mit dem goldenen Schlüssel
zu den unterirdischen Schatzkammern des zerfallenen Schlosses, noch die
Blaue Blume, zeigten sich dem Gorl, obwohl er intensiv danach suchte.
Trotzdem glaubte er felsenfest an die alte Sage, von der ihm schon seine
längst verstorbene Großmutter erzählt hatte, bis er eines
Tages etwas Seltenes erlebte.
Er entdeckte eine schmale, mannshohe Kluft unter einem Schrofen, die
er noch nie gesehen hatte, obwohl er dort jeden Tag
vorbeigekommen war.
Ein sonderbarer blauer Schimmer und kühle Luft drangen aus dem Berg.
"Die Wunderblume!" durchfuhr es ihn. Mühsam zwängte er sich durch den Spalt im Felsen und gelangte in einen halbverfallenen Raum, der durch ein blaues Licht nur dürftig erleuchtet wurde.
Gorl tastete einer Wand entlang zu einer verrosteten Tür. Knarrend drehte er den unförmigen Schlüssel.
Die tat sich auf, und dahinter lag eine große, wohnliche Stube, ebenfalls von diesem sonderbaren blauen Lichterhellt.
An den Wänden hingen Teppiche mit orientalischen Mustern und Darstellungen
von Pflanzen und Tieren, die Gorl
unbekannt waren.
Wandbänke rahmten den Raum ein, klobig und kantig gearbeitet, mit Samt- und Seidenpolstern belegt, wie in alten Schlössern.
Vom Überboden hing ein alter Leuchter, mit glänzenden edlen Steinen übersät.
Was aber den Burschen am meisten ins Staunen versetzte, war ein leibhaftiges
Burgfräulein, das an einem schnurrenden Spinnrad saß und einen
goldenen Faden spann, der sich auf einer Spindel aufwickelte.
Der Gorl glaubte seinen Augen nicht.
Zuerst hatte er die Holde für einen Sinnestrug gehalten, doch ihr
neugieriger Blick, ihr vertrauliches Lächeln überzeugten
ihn von ihrer Leibhaftigkeit.
Mit einer einladenden Bewegung forderte sie ihn auf, an ihrer Seite Platz zu nehmen, wobei an ihrer elfenhaft schönen Hand ein blutroter Ringstein auf blitzte.
Zögernd ließ sich Gorl auf einen breiten Hocker nieder, schaute dann die längste Zeit stillneugierig der emsig Schaffenden zu und betrachtete dabei die schöne Spinnerin eingehend.
Bald gewahrte er, dass der milde blaue Schimmer, der auf ihrem Gesichte lag, von einer Blume ausging, die in einer geschaffenen Vase neben ihr auf einem kleinen Tisch stand.
Diese Blume ließ das Herz des Gorl lauter schlagen, so sehr beglückte sie ihn, denn ihre Form und Farbe waren genau so, wie es die ältesten Leuten zu erzählen gewusst.
Hier stand sie also wahrhaftig vor ihm, die sagenhafte, so sehr begehrte, so emsig gesuchte Wunderblume!
Beinahe schon wollte der Gorl nach der Blume greifen, sie als seine Glücksbringerin an sich nehmen.
Aber nein, noch schöner und begehrenswerter dünkte ihm im Augenblick das verwunschene Fräulein selber.
Es wurde ihm ganz warm ums Herz und er vergaß die Blaue Gilge und alles andere, seine Herde, sein Dorf, seine Eltern und .Geschwister, ja sogar Margreth, seine Braut, für die er sich sonst Tag um Tag redlich mühte, um zu Hab und Gut zu kommen und sie endlich heiraten zu können.
Die Holde hatte ihn bereits in ihrem Bann. Doch wagte er es nicht, sie zu berühren; demütig und glückversunken saß er da und schaute und schaute.
Wie lange er in dem traumhaften Schauen verweilt hatte, wusste er letztlich selber nicht.
Erst als er das Ticken einer unsichtbaren Uhr vernahm und zwölf weiche Schläge hörte, schreckte er auf.
Er brachte kaum den Mut auf, die blütenweiße Hand der Holden "zum Abschied zu berühren.
Seine Bitte, ob er morgen um die gleiche Zeit wieder kommen dürfe, bejahte sie durch ein stummes, fast trauriges Kopfnicken.
Voll Glück verließ er sie und fand ohne Mühe ins Freie.
Der Schimmer der geheimnisvollen Gilge erhellte ihm den Weg bis hinaus.
Und selig vor Glück kam er ins Dorf, wo ihn die Leute mit Verwunderung empfingen und mit Fragen bestürmten, denn die Ziegen waren schon lange ohne den Hirten nach Hause gekommen.
Doch Gorl wich den Neugierigen aus und schwieg wohlweislich.
Nicht umsonst hatte das schöne Mädchen beim Abschied einen Finger auf seinen Mund gelegt zum Zeichen, niemand etwas zu erzählen.
So verriet er vorerst kein Sterbenswörtchen von seinem Erlebnis, auch nicht an seine Margreth.
Es war ihm selber nicht recht, dass er Margreth nicht mehr lieben konnte.
Er wollte ihr später auch alles erzählen und sich ganz frei von ihr machen, um seiner Holden angehören zu können.
Zuerst jedoch musste er sich seines Erlebnisses noch einmal vergewissern,
denn schon überkam es ihn wie ein Trug, dünkte
ihn alles nur wie ein schöner Traum, viel zu schön, um wirklich
wahr zu sein.
Er konnte die nächste Ausfahrt mit seinen Ziegen kaum erwarten.
Mit freudigen Blicken grüßte das Burgfräulein. Abermals setzte er sich auf den breiten Hocker und erlag sofort dem unbeschreiblichen Zauber, der von dem Mädchen ausging.
Heller noch erstrahlte die Wunderblume auf dem Tischchen, als wollte
sie die beiden Glücklichen ganz einhüllen in ihren blauen
Schimmer.
Nur viel zu früh ertönten wieder die zwölf milden Schläge der unsichtbaren Uhr. Er musste aufbrechen.
Gebieterisch legte ihm die Holde, so wie am Vortag, ihren zarten Finger auf den Mund und mahnte ihn damit zum Schweigen.
Diesmal kam ihm vom Dorf niemand mehr entgegen, wie ein Fabelwesen wurde er von den Leuten angestarrt.
Ein volles Jahr, so behaupteten sie, wäre er fort gewesen, man hätte ihn längst tot geglaubt, verschüttet irgendwo im brüchigen Gemäuer des alten Schlosses.
Und wenn schon, dachte sich der Gorl, schöner konnte er es nirgends haben als bei seiner über alles geliebten Holden.
Wenn er nur bald wieder zu ihr zurück konnte, diesmal wollte er für immer bei ihr bleiben.
Nichts band ihn mehr an die Welt, und keinerlei Besitz hätte ihn halten können. Zuvor aber musste er noch mit Margreth ins Reine kommen.
Doch den Weg zu ihr konnte er sich ersparen. Sie hatte inzwischen den
Sohn des Dorfmeisters geheiratet, der ihr schon seit langem begehrliche
Augen gemacht hatte. Die Abwesenheit des Gorl war dem gerade
recht gekommen, mit Geschenken und schönen Worten hatte er endlich
ihre Einwilligung zur Heirat erhalten.
Teils bedauernd, teils schadenfroh trugen die Leute ihrem Hirten diese Kunde zu, doch der nahm sie ihnen nicht krumm.
Mochte sie glücklich werden, die Margreth; und trotzdem wurmte den Gorl das Verhalten des Mädchens, das ihn so schnell aufgegeben hatte.
Aber gleich dachte er an das große Glück an der Seite des schönen Burgfräuleins.
So schnell ihn die Beine trugen, eilte er am nächsten Tag nun zum dritten Mal in den Steinwald hinauf.
Erst im blauen Licht des stillen Gemaches vermöchte er sich wieder zu beruhigen. Bräutlich geschmückt erwartete ihn diesmal das Schlossfräulein.
In blühendweißer Seide, vom mildblauen Schimmer der Gilge überstrahlt ein Krönlein m Haar, lächelte sie ihm entgegen.
Ein glückhaftes Leuchten ging von ihr aus, as den Burschen in die Knie zwang und ihn wortlos vor ihr verharren ließ.
Diesmal war sie es, die zuerst Worte fand, schöne und gute Worte.
Demnach vermochte er sie zu erlösen und dürfte immer wieder kommen, allzeit wieder, sooft es ihn nach ihr verlangte.
Bloß auf den Schlüssel dürfe er nie vergessen, auf den wundersamsten aller Schlüssel.
Dabei deutete sie auf die Wunderblurne hin, die die Eigenschaft besaß, Tür und Tor durch ihre Zauberkraft aufzuschließen, der Holden Schlafgemach ebenso wie die Schatzkammer des Schlosses, darin es nur so funkelte von Gold und Silber und edlem Gestein, so dass er nicht nur zum glücklichsten, sondern auch zum reichsten Manne weitum würde.
Danach verlangte es dem Gorl ja gar nicht, er wollte sich mit dem Burgfräulein allein bescheiden. Schon wollte er die strahlende Braut in die Arme schließen, doch sie entzog sich ihm hoheitsvoll.
"Heute noch nicht, erst morgen!" forderte sie eine neue Wartezeit von ihm.
Und wieder erklangen die zwölf Schläge der unsichtbaren Uhr, und Gorl stand draußen vor dem Felsen im Steinwald. "Morgen, morgen!", stammelte er in seinem Glück.
In seiner Aufregung und Verwirrung hatte er aber ganz auf die erteilte Weisung vergessen und war von der Holden weggeeilt, ohne die Blaue Blume, ohne den Wunderschlüssel mitzunehmen.
Doch kaum spürte er die kühle Abendluft, da dämmerte ihm der Sinn des Auftrages. Er schlug sich die Fäuste wund, er riss sich die Finger an der Felswand blutig, er schrie sich die Stimme heiser nach seiner Holden -vergeblich.
Bloß ein trauriger Seufzer, sterbensmüd und bitterbang, drang an sein Ohr, und hinterher ein donnerndes Rollen, das ihn vor Schreck fast lahmte.
Und noch einmal tat sich ein ganz schmaler Spalt auf, durch den er in einer verwahrlosten Rumpelkammer ein Totengerippe erblickte, das ihn höhnisch und abweisend angrinste.
Dann schloss sich auch der Spalt wieder.
Kraftlos sank er ins Weidegras und verfiel in einen tiefen Schlaf. Wie lange er so gelegen und geschlafen hatte, konnte er selbst nicht sagen. Und wie er auch suchte und suchte, er fand die Felsenklusse nicht mehr, aus der das blaue Licht der Wunderblume zu ihm gedrungen war.
Tagelang trieb er sich noch im Bereich des alten Schlosses herum, betete und fluchte bat und rief, suchte und schaute und kam ganz von Sinnen dabei.
Um viele Jahre gealtert, stieg er schließlich siech und wirr zum Dorf hinunter, wo ihn nur mehr die wenigsten kannten.
Hatte er früher als flotter Barsch im Ort gegolten, so nannten ihn die Leute nunmehr nur den alten, spinneten Gorl.
Tatsächlich waren seit seinem spukhaften Erlebnis Jahrzehnte vergangen, und so musste es wohl wahr sein, wenn die Leute behaupteten, dass er die beste Zeit seines Lebens im Banne einer Unholden vertan und deshalb zu nichts mehr tauge.
Sein wirrer Sinn ließ ihn auch die Schweigepflicht vergessen und allen, die es wissen wollten, erzählte er sein Geschick. Aber nur Spott und Lachen heimste er dabei ein.
Nur das uralte Kräuterweibele aus der Zange*) hörte ihm öfters zu, es lachte ihn aber nie aus.
Einmal nickte es bedächtig den schneeweißen Kopf und erzählte ganz bedächtig: "Die Holde, die du im Schloss bei der Blauen Blume gefunden hast, war vor langer Zeit die junge Schlossfrau. Als ihr Mann eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternahm, verliebte sie sich in einen jungen, fahrenden Schüler, der ihr durch einen Winter durch jeden Abend vor dem Kamin die schönsten Lieder sang. Die Ungetreue muss nun noch ihrem Tod büßen, büßen und warten, bis ein Sonntagskind kommt und sie erlöst. Dieses Sonntagskind muss aber davor die Blaue Blume gewinnen und sie als Schlüssel zum Glück verwahren. Gelingt ihm dies nicht, so kommt er selbst ins tiefste Unglück. Ja, ja, Gorl! Es stimmt also doch, was mir schon meine Großmutter vor einem halben Jahrhundert erzählt hat!"
Und so war es auch geschehen. Der Gorl kam nie mehr los von seinem brennenden Verlangen nach der Burgholden.
Den armen Kerl trieb es über Jahr und Tag zur Schlossruine hinauf in den Steinwald, bis man ihn eines Tages tot auffand, das Gesicht dicht an die Felswand gepresst.
Als man ihn geborgen und in der Totenkapelle offen aufgebahrt hatte, lag ein friedliches Leuchten auf seinem mit unzähligen Falten durchfurchten Antlitz, als hätte er ganz zuletzt doch noch einmal jenen blauen Schimmer erspäht, den er solange gesucht, dann gefunden und wieder verloren hatte.
*) Ortsteil von Silz
Quelle: Einige Sagen aus unserer Umgebung, Johann Zauner, gesammelt in einem gemeinsamen Projekt der Volksschule Mötz und Volksschule Silz, S. 10ff.