DIE ENGELSWAND
Ein Graf von Hirschberg, der vor vielen hundert Jahren bei Um-hausen seine Burg hatte, war mit Glücksgütern reichlich gesegnet, hatte aber die Unfruchtbarkeit seiner Gattin zu beklagen. Um vom Himmel einen Leibeserben zu erflehen, machte er fromm und andächtig eine Pilgerfahrt zum Grabe des Erlösers nach Jerusalem und wurde nach seiner Rückkehr wirklich durch ein schönes Knäblein in den Armen seiner Frau beglückt. Das Kind wuchs freudig und vielversprechend auf. Eines Abends lustwandelte das glückliche Paar unter der Engelswand, das Kind spielte sorglos lallend und rupfend in den Blumen des Feldes. Auf einmal rauschte ein gewaltiger Jochgeier von den Felsen nieder, stürzte sich auf das Knäblein und verschwand damit hoch in der Felsenwand bei seinem Horste. Die entsetzten Eltern starrten händeringend ihrem entschwindenden Liebling nach. Sie bestürmten mit Gebeten und Gelübden den Himmel. Und siehe, Gott erhörte die Eltern und tat ein Wunder. Denn plötzlich erschien ein Engel, nahm dem Raubvogel seine kostbare Beute, welche er gerade seinen Jungen zum Fräße geben wollte. Das Kind war noch unversehrt; da es aus Leibeskräften schrie, wagten die Jungen es nicht anzugreifen. Als der glänzende Engel erschien, flog der Jochgeier davon. Der himmlische Retter schwebte mit dem Kinde nieder und legte das Knäblein am Fuße der Engelswand sanft in das weiche Gras vor den freudig erstaunten Eltern. Diese bauten dann an jener Stelle, wo der Himmelbote das Kind niedergelegt hatte, in frommer Dankbarkeit eine Kapelle und nannten den Felsen, in dem ein so großes Wunder geschehen war, die Engelswand.
Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 159 f.
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997