TANNENEH
Wo jetzt der Große Gurgler Ferner liegt, war in alten, alten Zeiten eine fruchtbare, blühende Gegend mit einer schönen Stadt mit Namen Tanneneh. Die Leute dort waren sehr reich, aber auch sehr geizig. Sie aßen mit silbernen Löffeln, Gabeln und Messern aus goldenen Tellern ihre reichen Mahlzeiten. Ja sogar die Knöpfe am Gewand, die Nägel an den Schuhen, die Spitzen und Griffe der Spazierstöcke waren aus Gold und Silber. Dabei waren sie sehr stolz und hartherzig gegen die Armen. Da kam einmal ein armer, alter Bettler nach Tanneneh. Von Haus zu Haus bat er um milde Gaben. Doch an jeder Türe wurde er mit höhnischen Worten abgewiesen. Der alte Mann konnte sich fast nicht weiterschleppen vor Hunger und Mattigkeit und bettelte immer noch weiter. Da wurden die Leute in Tanneneh zornig und treiben den Bettler mit ihren goldenen Stöcken aus der Stadt hinaus. Da hörte man eine Stimme: Tanneneh, Tanneneh, s'macht an Schnee und apert nimmermeh!"
Da fing es an zu schneien und schneite fort soviel Tage und Nächte, bis die reiche schöne Stadt samt ihren hartherzigen, gottlosen Bewohnern tief unter einem Ferner begraben lag. Und es muß wahr sein, denn auf der anderen Seite sieht man heute noch goldene Kellen im Fernerbach hinunterrinnen.
Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 129
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997