DIE VERFLUCHTE ALM
Von Vent zwei Stunden im Niedertal drin heißt man es bei der "Ochsenhütte". Es ist eine verlassene Hütte, denn ein Unsegen ruht auf dieser Alm. Das Dach ist schon lange fort und nur die Mauern stehen noch als Zeichen, daß hier einst eine blühende Alm war. Rechts und links türmen sich Felswände, grünes Gletschereis lugt von oben herab. Doch hier bei der Ochsenhütte ist grüner Weideboden. Aber keine Kuh kann hierher getrieben werden, so oft es auch versucht wurde, denn diese Alm ist verflucht. Und das kam so: in uralten Zeiten war hier eine gesegnete Alm, viel Butter und Käse wurden von hier ins Tal hinab getragen. Da kam einmal eine arme Wanderfamilie durchs Tal herauf, wollte übers Niederjoch ins Schnals weiter und ins Vinschgau reisen. Schlechtwetter war eingefallen und da ist's nicht ratsam übers Niederjoch zu gehen, schon gar nicht mit Weib und Kindern. So bat denn der Vater der Familie beim Oberhirten um eine Unterkunft für die Nacht. Doch der hatte kein Erbarmen, auch nicht die anderen Almleute. Sie verspotteten sogar die armen Häuter, bis endlich der Schäfer sie mit harten Worten vor die Hütte hinausschob: "Bleibts draußen bei den Schafen und Geißen im Stall!" Sie mußten frierend und naß in den Schafpferch. Und in der Nacht geschah es, daß die Familie zu den vier Köpfen noch ein Kleines bekam. Trotzdem jagten die Almleute die schwache Mutter samt ihrem Neugeborenen und den anderen Kindern vor die Hütte. Der Vater verließ mit seiner Familie die harten Leute mit dem Fluche: "So sollt ihr Schäfer bleiben bis zum Gericht Gottes und nie mehr Kuhhirten und Ochsner sein. Das Gras dieser Alm soll kein Rind mehr nähren!" Und der Fluch ging in Erfüllung. Noch am selben Jahre gingen Kühe und Ochsen, bei 40 Stück, an dem schwarzen Brand zugrunde. Ja, das Niedertal ist eine große Schafalm geworden. Bei 2000 Stück weiden dort. Oft aber sieht man die ehemaligen Hirten als traurige Schatten herumschleichen und hört ihr Jammern.
Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 121
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997