Die weiße Frau von Domaburg
Auf dem nordseitigen
Iselufer steht heute noch auf sonnenüberfluteter Talterrasse ein
alter Gutshof mit schloßähnlichem Charakter, einem mit schönem
Netzrippengewölbe überzogenen Flur und vergittertem gotischen
Dreieckserker an der Nordseite, von dem noch die Rede sein soll. Die Domaburg,
deren Name wahrscheinlich auf den dortigen Eichenbestand zurückzuführen
ist, denn "Dombra" bedeutet so viel wie Eichenwald, war einst
der vornehmste Kuchlhof von Schloss Bruck, zu dem auch, wie die mündliche
Überlieferung berichtet, ein unterirdischer Gang geführt haben
soll.
Was weiß nun die Sage von der ruhelosen Frau und ihrer Schuld zu erzählen, die vor Unglücks- oder Todesfällen in weißen, wallenden Gewändern den Nordtrakt der Domaburg durchschreiten muss?
Einem Görzer Grafen, der in Schloss Bruck residierte, entriss der
Tod nach kurzem Glück sein trautes Ehegemahl, das ihm ein fünfjähriges
Knäblein hinterließ. Um dem Kinde eine Mutter zu geben, ehelichte
er zum andernmal ein adeliges Fräulein aus seinem Freundeskreise.
Die junge Gräfin schien an dem Kleinen Gefallen gefunden zu haben,
doch nach einigen Jahren schlichen sich Eifersucht und Neid in ihr Herz,
da sie erkennen musste, dass die größte Liebe des Vaters seinem
Erstgeborenen galt. Als der Graf dies wahrnahm, entschloss er sich, um
den ehelichen Frieden zu wahren sein Kind in die Obhut einer erfahrenen
Frau nach Domaburg zu geben. Die Gräfin hatte jedoch das Verderben
des Kindes beschlossen und gar bald fand sie in der Wärterin desselben
eine Vertraute und Genossin. Sie beschlossen, den Buben einem langsamen
Siechtum preiszugeben. So entzog man ihm die Freiheit, sperrte ihn in
ein dunkles Gemach, das nie ein Sonnenstrahl erwärmte und nur durch
das vergitterte Erkerfensterchen spärlich erhellt wurde, und der
Knabe musste oft wochenlang das Bett hüten. So welkte er dahin, und
wenn sein Vater ihn besuchte, hieß es stets, er sei krank. Da geschah
es, dass die Wärterin selbst erkrankte, und Mathes, der Schaffer,
der sie durchschaut hatte, gab dem Knaben die Freiheit. Wie froh tummelte
sich dieser nun auf den Äckern und Wiesen herum, und als sein Vater
wiederkam, sprang er ihm mit geröteten Wangen und blitzenden Augen
entgegen. Mathes, seinem Herrn treu ergeben, erzählte nun, was hier
geschehen war, dass er ohne Wissen der Dienerin den Knaben aus der dunklen
Kammer befreit hatte, und bat, ihm in Hinkunft die Erziehung des Junkers
anzuvertrauen.
Der Görzer willigte ein. Gesund und kräftig entwuchs der Junker
seinem Knabenalter, denn das Auge des Dieners hatte ihn treu bewacht.
Der Hass seiner Stiefmutter jedoch loderte weiter, obwohl sie gute Miene
zum bösen Spiel machte.
Des Junkers Vorliebe für Federwildjagd ausnützend, sandte sie ihm einen ihr ergebenen Knappen aus Schloss Bruck zur Begleitung, der gut Bescheid wisse, um sichere Beute zu machen. Nach Mitternacht verließen die beiden die Domaburg, um das Balzen des Spielhahnes zu belauschen, und gar bald hing der stolze Vogel über der Schulter des trefflichen Schützen. Auf den Bergspitzen der Schleinitz lag schon das Gold der Morgensonne - man wollte heimkehren. Doch der Knappe lockte den Junker weiter, den Lämmergeier zu jagen, der so viele Birk- und Schneehühner vertilgte. Immer höher stiegen sie die schauerliche Felsschlucht empor, und als sich der Jüngling vorbeugte, um das Nest des Geiers zu erspähen, widerhallte ein markerschütternder Schrei in den Wänden - der Junker war in der gähnenden Felsschlucht verschwunden. Der Mörder eilte nun zu Tal, um von dem Unglück zu berichten. Die Schlossmannen, mit Stricken und Leitern versehen, konnten den Jüngling noch in die Domaburg bringen, wo der Sterbende nach seinem Mörder verlangte. Als dieser in die Stube trat, ging ein Beben durch den Körper des Kranken, und er sprach mit bittender Stimme: "Was habe ich dir je Leid's getan, Guido, dass du mich in die schauerliche Tiefe gestoßen hast? Ich verzeihe dir, möge auch Gott dir verzeihen!" Dann schloss er seine Augen für immer.
Der Graf jedoch hielt ein fürchterliches Gericht: Der Bursche, der bekannt hatte, für sechs Goldstücke und ein neues Wams von der Gräfin deren Stiefsohn in den Tod zu führen, kam in den Schuldturm und niemals wieder erblickte er das Tageslicht.
Die Gräfin aber ließ er lebendigen Leibes in die Gruft seiner Ahnen der St.-Andrä-Kirche zu Lienz einmauern.
Jahrzehnte später, so erzählt der Volksmund noch heute, fand man beim Öffnen des Gruftdeckels, auf der obersten Stufe sitzend, eine tote Frauengestalt, die durch die Berührung mit der frischen Luft in sich selbst zusammenfiel.
Quelle: Die schönsten Sagen Osttirols, Maria Kollreider-Hofbauer, Innsbruck 1968, S. 9