DIE WILDE SENNERSPITZE BEI LIENZ

Es ist eine wilde Felsenregion, in welche ich den Leser einführe, eine Gruppe schauerlich schöner Dolomiten, die, von einer uralten Sage hergeleitet, den Namen "der wilde Senner" erhielt und bis heute beibehalten hat.

Sechs Stunden von Lienz entfernt ragen diese gigantischen Bergriesen empor, aufgebaut durch die eherne Natur - den Meißel Gottes. Ihre Zinnen zu besteigen ist selbst für tapfere Touristen ein Wagestück; da ist kein Platz für den Fuß des Menschen, nur zerrissenes Gewände ragt auf in den Nebel der Alpen, die hellen Sonnenstrahlen lassen eine Wildheit schauen, wie kaum eine zweite in der großen Kette unserer Dolomiten.

Am Fuße dieser Spitze liegt ein kleiner See, der Laserzsee; hoch von den schründigen Wänden fließen von Hang zu Hang wie weiße Bänder die Gebirgsbäche herab, um den stillen See zu speisen. Jäger hören oft ein donnerartiges Getöse und die grünlich klaren Gewässer, in der Ruhe gestört, werfen Wellen und belecken so den Fuß des Gebirges.

Die Sage verlautet, daß in den Tiefen des Sees der Geist eines Brudermörders büße - daß dieser auch für die Menschen im Tal ein Gegenstand der Furcht gewesen. Oft habe der Seegeist menschliche Gestalt angenommen; ein riesenhafter Geist, mit endlos langen Haaren, sei er zu Tale gestürzt, seine Haarsträhne in das Geäste der Bäume verwickelt und solches mit sich reißend; da hörte man ein Krachen, wie ein furchtbares Hagelwetter; dann hätten sich die Leute bekreuzt, Liebfrauenbüschl und Osterpalmen auf die Glut gelegt, gejammert und geklagt: "O der Seegeist, was wird wieder für Unglück kommen?" Ansteckende Krankheiten bei Menschen, Viehseuchen, Mißwachs und Hagelschlag, jegliches Ungemach war man gewohnt, dem Seegeiste zuzuschreiben.

Nun zum Ursprung der Sage. Es waren einstens zwei Brüder, welche ein und dasselbe Mädchen liebten. Den einen liebte die Dirn um seiner selbst Willen, den andern achtete sie hoch, weil es der Bruder des Liebsten war. Dieser war aber mit der bloßen Achtung und Freundlichkeit nicht zufrieden; seine Eifersucht erwachte, als er immer und immer sehen mußte, wie die Dirn den Bruder begünstigte.

Da kam ein unglückliches Verhängnis. Das Mädchen zog mit den Kindern des Vaters nach der Alm; als Sennerin ließ man sie den Hirten wählen und sie wählte keinen anderen als ihren Liebsten. Nun war es um die Besinnung des eifersüchtigen Mannes vollends geschehen. Eines Tages schlich er hinauf nach den Weideplätzen und erschlug meuchlings seinen Bruder.

Doch die Strafe des Himmels ereilte ihn auf der Stelle. Kaum hatte er gesehen, wie das Opfer seiner Leidenschaft den letzten Atemzug gemacht, packten ihn schon die Qualen schrecklicher Gewissensbisse. Wie von Furien getrieben, floh er immer weiter hinauf und hinein in die Berge - Da! wie nach Wunsch, lag der vorher nie gekannte See vor seinem verstörten Blicke - lieber sterben als in solcher Qual weiterleben! - Er stürzte sich in die Tiefen des Wassers.-

Somit hätte der Mörder vor der menschlichen Gerechtigkeit nichts mehr zu fürchten gehabt. "Er hat sich selbst gerichtet," hieß es; "da oben bleibt kein böser Mensch lange am Leben." Der Hirte einer Nachbaralm hat ihn gesehen, wie er floh - und doch dem Tode sicher entgegenging.

Man atmete erleichtert auf. "Nun hat ihn die Strafe Gottes erreicht für seine schwarze Tat, wir sind unserer Pflicht ledig." So sagten die Leute; aber als diesen Sommer und den kommenden in den Alpen und auf dem Lande der eine "Unreim" nach dem andern geschah, der Blitz Rinder erschlug, Schnee und Kälte die Weiden verdarb, unter den Menschen Krankheiten grassierten, da regte sich der Aberglaube: "Gewiß ist der unbestrafte Mörder daran Schuld, sein böser Geist rumort in der Gegend - und die ehrvergeßne Dirn, soll man sie nicht strafen, daß sie den beiden Brüdern so den Kopf verdrehte ? Weg muß sie von der Alm! Ja, am besten wärs, man jagte die Unheilstifterin aus der Gegend!" -

Es geschah. Das Mädchen irrte, da sie nirgends mehr Aufnahme fand, in den Wäldern umher, ihrem Vater drohte man mit allerlei Strafen, wenn er ihr Unterschlupf zu geben sich unterstehe; jedoch heimlich brachte er doch seinem Kinde hie und da Nahrung in ein Versteck.

Einmal wurde er von einem Nachbar auf solchem Gange überrascht. Der Mann versprach zu schweigen, aber eine gar wichtige, schwere Bedingung stellte er dem Mädchen: "Gehe hinauf auf die Höhen, suche so lange dort, bis du den Sennerstab, mit dem dein Liebster erschlagen wurde, findest (man fand ihn nicht bei dem Toten); der Mörder, nur der kann ihn mitgenommen haben. Der Stock ist kenntlich; viele Jahre diente er dem Alpenhirten; so viele Striche darin eingeschnitten, so viele Rinder waren ihm anvertraut."

Das Mädchen erschrak heftig ob dieser Forderung; denn sie glaubte ebenso gut an den unheimlichen Geist wie alle anderen Leute.

"Dieses Opfer mußt du bringen," fuhr der Bauer fort, "bedenke, einen Büßer erlösen! Dir kann der Himmel ja gar nimmer versperrt sein - und noch dazu befreist du die ganze Gemeinde vom Schrecken und Unglück."

Wohl etwas zögernd gab sie endlich ihr Jawort. Im Grunde dachte der Bauer, daß man sie so sicher für immer los sein würde, und vom Seegeiste auch nichts mehr zu fürchten sei; Leben gegen Leben!

Das Mädchen machte sich auf den Weg nach jenen Regionen, wo noch nie eines Menschen Fuß gewandelt war.

Zur Zeit dieser Begebenheit führte kein Weg noch Steg nach dem Laserzsee. Der Mensch suchte damals den Hochwald nicht mit Gewinngier wie heute; es wucherte darin, was wuchern konnte; das Gestämme war üppig und wuchtig, ein Riesengeschlecht! Mächtige Felsblöcke, die vom Hochgebirge herniedergerollt, ragten zahlreich zwischen Bäumen und sandigen Heidegründen empor, schauerlich wilde Formen bildend. Der Specht, der Habicht und was eben fähig war zum Streite, das lebte hier, von keinem Menschenauge bewacht oder behindert.

So war der Bereich, in welches ein schwaches Menschenkind nun einzog. Sie war entschlossen, sich zu opfern - dies Gottesurteil mußte sie beteh'n. Die Furcht vor dem büßenden Geiste schüttelte ihre müden Glieder: "Wird er mich als Ursache seines Verderbens nicht töten?"

Fast freudig überraschte sie der Ausblick auf den kleinen See, aber die hohen, grauen, ehernen Bergriesen, die in ernster Ruhe unheimlich aussahen, machten sie schauern.

Der Mond war aufgegangen, die Nebelfetzen wallten zerrissen hoch in den schründigen Wänden; die Schauer dieser wilden Einsamkeit bemächtigten sich des übermüdeten Körpers; kaum, daß sie ihre Füße dem Seeufer entlang trugen, wo sie ein großes Felsenloch wahrnahm. Da verkroch sie sich und lehnte ihren Kopf an die harte Felswand; es kam zur trostreichen Beruhigung der Schlaf.

Ein Traumbild wendete ihr Geschick zum Guten. Sie sah drei hohe Felsen, die menschliche Gestalt angenommen hatten. Dem größten in der Mitte zierte das mächtige Haupt ein Kranz von Seerosen, die Haare, wie Feuer leuchtend, reichten bis hinab in den See; in der Hand hielt er einen riesigen Stab wie ein Szepter, während er mit der andern der Schläferin zuwinkte mit den Worten: "Beuge dein Knie, du stehst vor deinem König!"

"Siehst du meine Krone?" fuhr er fort, "ich habe sie erobert in dieser Stunde. Du, die unschuldig Unglückliche bist die Erste und Einzige, die ihren Fuß hierher gesetzt; dein Mut mich zu erlösen, hat die Geister der Tiefen entwaffnet, meine Schuld da droben gelöscht." Bei den letzten Worten deutete er nach dem klaren Sternenhimmel. "Gehe zurück zu den Menschen, denen ich bisher zum Schrecken war, bringe ihnen Kunde, ich sei eingegangen in das Reich der Ruhe. Zum Zeichen, daß du wahr redest, bringe ihnen den Sennerstab meines Bruders; er war die Waffe, mit der ich das Verbrechen vollführte; sieh dich um, nicht weit von dir wirst du ihn finden."

Die freudige Aufregung teilte sich auch ihrem Körper mit - sie erwachte; in ihrem der Freude entwöhnten Herzen zitterten die Fiber ob des verheißnen Glückes - der Seegeist! sonst so gefürchtet, er war so mild gewesen und hatte so Freudiges gesprochen - ach, daß es nur ein Traum gewesen!

Der Tag war angebrochen, sie gedachte wohl der Worte: "Sieh dich um, nicht weit von dir wirst du ihn finden;" sie tat es auch, trotzdem sie nichts hoffte - siehe da - an der entgegengesetzten Steinwand lehnte der verhängnisvolle Stab - ein Schrei widerhallte in dem ehernen Raume.

Am Ufer des Sees saß sie und weinte, lange flossen ihre Tränen - an ihrem Schoße lehnte die Waffe, die ihr den Geliebten getötet. Das friedliche Gewässer kräuselte sich zu ihren Füßen, leichte Wellen flüsterten in ihr Ohr, doch sie konnte ihnen nicht hold sein, ach sie waren die Dämonen gewesen, welche ihn in das nasse Sterbebett gezogen. Endlich machte sie sich auf den Weg zurück, nach und nach kehrte wieder frohe Zuversicht in ihr Herz ein, der armen Seele Ruhe verschafft zu haben und den Menschen diese frohe Nachricht bringen zu können.

Sie fand auch freudige Aufnahme. Der früheren Mißachtung und Verfolgung folgten nun beim Anblick des stummen Zeugen Hochschätzung und ehrfurchtsvolles Erstaunen und des Mädchens Leben war fortan von Glück begleitet.

Dies ist der Ursprung der Benennung "wilde Sennerspitze".


Quelle: Aus den Hohen Tauern, Tiroler Volkssagen von Fr. Linder, Innsbruck 1925, Seite 96