Die weiße Frau des Iseltales
Ein Idealist, der es heute noch wagt, das vordere Iseltal auf der Bundesstraße zu durchwandern, wird ungefähr eine halbe Stunde, bevor er die Ortschaft St. Johann im Walde erreicht, auf dem südseitigen Iselufer einen senkrecht in die Höhe strebenden Felsknoten sehen, die sogenannte „Angerlewand“. Ein Stück oberhalb derselben befindet sich ein großer, glatter, nahezu überhängender Felsblock, auf dessen grauem Grund ein kreideweißer, länglicher Fleck, in der Form ähnlich einer überlebensgroßen, aufrecht stehenden Frauengestalt, stets im Scheine der untergehenden Sonne aufleuchtet. Dieser trägt nun den Namen „Die weiße Frau des Iseltales“, denn in jenen Gewänden sollen die „Saligen Fräulein“ oder die „Saligen Dirnen“, wie der Volksmund sie nennt, ihre ursprüngliche Heimat gehabt haben. Über die Herkunft jener Wesen konnten sich die Obermößner Nandl und die Bruggermutter nicht einig werden, obwohl sie sonst ein Herz und eine Seele waren. Während das Nannele fest darauf bestand, dass die Saligen verzauberte Mädchen oder gar verwunschene Prinzessinnen waren, behauptete die alte Bruggerin, sie seien der Ehe zwischen einem Menschen und einem Elfenmädchen entsprungen, da es ihrer Ansicht nach auch männliche Salige gab.
Wie dem auch sei, wir wollen nun die Sage etwas aus deren Leben, Schalten und Walten erzählen lassen. Vor allem waren die Saligen stets wohlgestaltet, jung und von besonderem Liebreiz, unterstützten gerne Notleidende, ihre Arbeit brachte den ihnen Wohlgesinnten reichen Segen, ihr Fluch aber haftete generationenlang an denen, die ihnen Böses zufügten. Von Zeit zu Zeit mussten sie in ihre Felsenheimat bei der weißen Frau zurückkehren. Wohl dem, der ihres Segens teilhaftig wurde.
DIE RODERIN, eine arme Witwe, hauste mit ihren sechs Kindern und der einzigen Kuh in tiefster Armut in einer halb verfallenen Keusche; sie sank einst beim Brotbacken, von Fieber geschüttelt, bewusstlos zu Boden. Da stand auch schon eine Salige neben ihr, brachte die Todkranke zu Bett, buk das Brot fertig und braute einen heilkräftigen Trank, den sie der Ärmsten in ihre Kammer brachte, wobei sie ihr versprach, für Haus, Küche, Kuh und die Kinder zu sorgen. Etliche Wochen später konnte die Roderin, dank der aufopfernden Pflege der Saligen, ihr Bett wieder gesund verlassen. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie in der blitzblanken Kuchl ihren sauber gekleideten, rotbackigen und nun auch wohl erzogenen Kindern gegenüber stand. Die Salige führte sie weiter in den Stall, wo die Kuh vor einem hoch gefüllten Barren zwei muntere Kälbchen beleckte. Die Schindeln des Daches waren ausgewechselt und in den ehemals durch Spinnweben und Schmutz verdunkelten Fensterscheiben trieb die lachende Sonne ihr neckisches Spiel. Bis sich die überraschte Frau gefasst hatte, um der gütigen Helferin zu danken, war diese längst verschwunden, um anderwärts Not zu lindern.
AUF IHREM WEGE zur weißen Frau kam die Salige zu einer halb verfallenen Waldhütte, in der Wast, ein zerlumpter, verlauster und nahezu verblödeter Sonderling mehr schlecht als recht sein Leben fristete. Jeden Sonnabend pflegte er von seinen gewohnten Wochengängen betrunken heimzukehren, um den Tag des Herrn in der schmutzigen Hütte schlafend vorbeigehen zu lassen. Auch an jenem Samstagabend kehrte er fluchend und torkelnd in seine Waldrast zurück. Verblüfft blieb er stehen, hielt sich zunächst am Vorgatter fest und klappte die schweren Augendeckel ein paarmal auf und nieder. Die Fenster waren geputzt, der Misthaufen vor der Hütte verschwunden - was würde er heute noch erleben! Vorsichtig öffnete er die Türe - die Stube war gefegt, alles stand sauber an seinem Platze. Er tappte sich weiter - Wäsche und Kleider lagen frisch gebügelt in der Truhe, dem Bette mit den aufgeschüttelten Polstern und reinen Überzügen wagte er sich kaum zu nähern. Er glaubte zu träumen - oder war der Selbstgebrannte des Moserbauern schuld daran, dem er allzu fleißig zugesprochen hatte? „Wer hat es nur gewagt, sich an meinem Eigentum in solch frevelhafter Weise zu vergreifen?“ lallte er vor sich hin. Da fiel sein Blick auf den mit einem leckeren Mahl wohlgedeckten Tisch. Gierig stürzte er sich auf die Speisen und verzieh dem Geist seiner verstorbenen Frau, den er hinter all dem Spuk vermutete. Woche für Woche fand Wast sein Häuschen gesäubert und den Tisch mit einem guten Abendessen bestellt vor, ohne dass er jemals irgendwen zu Gesicht bekommen hätte. Dies war ihm zur lieben Gewohnheit geworden und er beschloss, auch sein Äußeres ein wenig zu pflegen und nicht mehr als verlauster Lotter unter die Leute zu gehen. Nur eines konnte er nicht unterlassen, denn ihm selbst kam es ja nicht sündig vor, nämlich das für seinen Bedarf notwendige Mehl aus den Mühlen der angrenzenden Bauern zu stehlen. Niemals wäre man Wast auf die Spur gekommen, hätte er sich nicht selbst verraten. Zufällig hatte ein Bauer in der Mühle Mauergips gemahlen, was Wast in seiner Beschränktheit nicht auffiel. Er füllte seinen Häfen mit Gipsmehl und trottete weiter. Im Laufe der kommenden Woche stieß er mit jenem Bauern zusammen und brüllte ihn an: „Was für ein Mehl mahlst du denn in deiner Mühle, von dem kann man nicht einmal die Knödel derbeißen!“
Als Wast wieder zu seiner Waldhütte kam, da stand ein wunderschönes Mädchen vor dieser und sagte traurig zu ihm: „Deines Unglückes wegen habe ich dir jahrelang treu gedient und würde es noch weiter tun, doch als ich erfuhr, dass du deine Hände nach fremdem Gut ausstreckst, musste ich meine Aufgabe beenden. Niemals wirst du mich wiedersehen und niemand wird dich umsorgen. Darum gebe ich dir den guten Rat: werde ehrlich, bete und arbeite und du wirst zu Glück und Wohlstand kommen!“ Wast befolgte die wohlgemeinten Worte, und die Prophezeiung der Saligen ging in Erfüllung.
BEIM GRÖSSTEN BAUERN von Göriach, einem Weiler im Iseltale, der eine halbe Gehstunde über dem Saligenfelsen liegt, herrschte Mangel an Arbeitskräften. Vier Mägde brauchte es noch für das Haus, den Stall und das Feld. Heute war Schlanggltag, und keine einzige hatte vorgesprochen, denn der Geiz und die Bosheit der Bäuerin waren überall bekannt und gefürchtet. Gegen Abend betraten zwei hübsche Mädchen, eine Dunkle und eine Blonde, die Stube, entboten ihren Gruß und die Dunkle sagte zum Bauern: „Du suchst Mägde, eine von uns beiden kannst du haben. Ich heiße Trude und meine Schwester Sybill, wähle also.“ „In Gottes Namen“, rief der Bauer, „bleibt doch beide bei uns, ich brauche ja vier!“ „Jede von uns beiden macht die Arbeit für vier, wähle, denn nur eine kann hier bleiben, die andere muss zum Bärenthaler gehen.“ „Na schön“, erwiderte der Bauer, „besser eine als keine, Trude, du kannst bleiben, dein gutes Mundstück gefällt mir.“
Der Bauer hatte es nicht zu bereuen, denn dem Mädchen ging die Arbeit so flink von der Hand, als wären anstatt zwei Händen deren acht am Werk. Darum sparte er auch nicht am Lohne, denn er wusste, dass sie alles den Ihrigen zutrug, doch konnte er nie erfahren, woher sie gekommen war. Hatte Trude Ausgang, so lief sie den Tannensteig zur weißen Frau hinab. Bei jeder Gelegenheit lobte er das Mädchen und schürte so, ohne es zu wollen, den Hass seiner Frau auf Trude. Mehr als zwei Jahre waren vergangen. Zur Zeit der Mahd setzte Schlechtwetter ein, und die Knechte konnten das Heu auf den Bergwiesen nicht einbringen. An einem Samstag heiterte der Himmel auf und am Sonntag war herrlichster Sonnenschein. Frühmorgens traf daher der Bauer Anstalten zum Heurechen und befahl seinen Knechten und Mägden, sich bereitzuhalten. Trude verweigerte ihre Mitarbeit, und so wollten die anderen auch nicht zugreifen. Alles Zureden des Bauern half nichts, die Sonntagsruhe blieb gewahrt. Tags darauf sollte das Korn auf dem Bichlacker geschnitten werden: Er wusste nun keinen Rat. Da sagte Trude: „Bauer, ich geh morgen alleine ins Heu, die anderen sollen schneiden.“ Entgeistert blickte der Bauer auf das Mädchen, denn für gewöhnlich brauchte es acht bis zehn Leute, um das Bergheu einzubringen.
Anderntags ging Trude alleine auf die Bergwiesen, wartete bis das Heu tautrocken war und fing dann an zu kommandieren: „Heu herunter, Heu herzu. Heu in die Schupfe!“ Auf Windesflügeln flog ihr das Heu von allen Seiten zu und bettete sich in der Schupfe, gut aufgeschüttelt, schön zusammen. Neugierig, wie die Männer nun einmal sind, war der Bauer ihr nachgeschlichen und hielt sich den Mund zu, um nicht hellauf zu lachen bei diesem köstlichen Schauspiel. Endlich ging ihm ein Licht auf: Seine Dirn war eine Salige! Trude winkte ihm nach getaner Arbeit freundlich zu und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Dieser Verlust schmerzte den Bauern gar sehr, doch sein Weib frohlockte, weil sie das verhasste Wesen los war.
Am nächsten Dreikönigsabend sollte die Bäuerin jedoch noch einmal an ihre vermeintliche Todfeindin erinnert werden. Sie war gerade beim Schlipfkrapfensieden, als eine Hand im Ausgußloch erschien und von draußen eine flehentliche Stimme um ein paar dieser guten Dinger bat. Die Bäuerin vermutete, es sei die Perchte, und verlangte dafür einen Zweig mit Kirschblüten. Tatsächlich erschien die Hand bald darauf wieder und hielt ihr einen blühenden Kirschenzweig entgegen, wobei die Stimme außer dem Hause die Bitte wiederholte. An dieser erkannte die Bäuerin Trude, ergriff das Küchenbeil und schlug ihr die Hand ab. Das Mädchen stieß einen fürchterlichen Fluch aus und verließ weinend und blutend die Stätte, an der es unsagbar viel Gutes getan hatte. Niemand im Hause wagte es, die immerwährend blutende Hand zu verräumen, deren Finger stets drohend winkten. Bis heute haftet der Fluch der Saligen auf diesem Geschlechte.
VIEL BESSER ERGING es Trudes Schwester im Bärenthalerhofe. Alle liebten sie und schätzten ihre Arbeit. Sepp, der älteste Sohn, wollte das Mädchen ehelichen, um es für immer dem Hofe zu erhalten. Sie gab ihm wohl ihr Jawort, doch unter der Bedingung, dass er in aller Ehrbarkeit mit zu ihren Eltern ziehen müsse. So groß war seine Liebe zu Sybill, dass er sein Anerbenrecht dem jüngeren Bruder überließ, der zu seinem und des Hofes Verderben schon lange danach gestrebt hatte.
Wie groß war aber das Erstaunen Sepps, als er am Abend seines Hochzeitstages von seiner jungen, schönen Frau über den schwindelerregenden Tannsteig zur Felswand der weißen Frau geführt wurde, die sich auf ein Zauberwort öffnete und die beiden einließ in prächtig ausgestattete unterirdische Räume, in denen er alles vorfand, was ein zufriedenes Leben versprach. Seine Ehe mit Sybill wurde glücklicher, als er es sich je erträumt hatte. Die frisch gewaschenen, vor der Felswand zum Trocknen aufgehängten Windeln verrieten, dass sich das Volk der Saligen wieder einmal vermehrt hatte. Keinen Sonntag versäumten sie es, entweder nach St. Paul (Schlaiten) oder St. Johann zum Gottesdienst zu eilen. Dabei fiel es Sepp auf, dass niemand seiner achtete, bevor er nicht selber den Gruß bot. Da ihn dies sehr kränkte, offenbarte er sich eines Tages seiner Frau. Lachend erwiderte sie: „Oh, mein Herzensseppl, das vergaß ich dir ja zu sagen. Wir Salige werden nur von Menschen gesehen, die wir selbst ansprechen und du als mein Mann bist ihnen ebenso unsichtbar wie ich!“ Sepp gab sich mit dieser Erklärung zufrieden, zumal ihm Sybill noch ein weiteres Zeichen ihres Vertrauens gab, indem sie ihm die Entstehungsgeschichte des Felsens der weißen Frau erzählte: „Da war einmal eine mannstolle Dirn, die brachte ihren Eltern Schande ins Haus, worauf ihre Mutter sie verfluchte. Also gleich wurde sie in jenen Fels verwandelt und kann erst erlöst werden, wenn es einem Menschen gelingt, den Eingang zu unserer Saligenwohnung zu finden und diesen zu öffnen.“ Noch immer harrt die weiße Frau ihrer Erlösung!
Quelle: Maria Kollreider-Hofbauer, Die schönsten Sagen Osttirols, Innsbruck 1994, S. 186 - 191.