DIE FANGA UND DER JÄGER

Ein Jäger, der den ganzen Tag gejagt hatte und sehr müde war, kam spät abends zu einer leeren Sennhütte. Er beschloß, darin zu übernachten, legte seine gemachte Beute, eine fette Gemse, auf's Dach hinauf und gieng in die Hütte. Als er dort bei einem aufgemachten Feuer sich wärmte und die Abendkost bereitete, hörte er plötzlich ein Jammern vor dem Hause und vernahm deutlich die Worte:


"Da liegt uns're schöne Kuh,
Sie ist todt, ja todt."


Gleich darauf kam ein wunderschönes Weib in die Hütte und sprach: "Du hast uns eine Kuh getödtet, deshalb will ich dich in Stücke zerreißen." Der Jäger erwiderte aber ohne sich lange zu besinnen: "Und ich erschieße dich." Da fürchtete sich die Fanga doch ein wenig und sprach: "Diesmal will ich dir noch nichts zu Leide thun, aber wenn du noch in Zukunft eine unserer Kühe tödtest, dann Wehe dir! Doch komme in unseren Stall, dann kannst du sehen, wo uns die Kuh abgeht." Der Schütze folgte den Worten der Fanga und gieng mit ihr. Sie führte ihn in eine unterirdische Höhle, in welcher ringsum Krippen angebracht waren. An jeder hieng eine Gemse, nur eine Stelle war leer. Auf diese wies die Fanga hin und sprach: "Siehst du, hier ist eine leere Krippe, hier hast du uns eine Kuh herausgeschossen. Jetzt geh' nach Hause und thu' unsern Kühen kein Leid mehr." Der Jäger gieng aus der Höhle und schoß keine Gemse mehr. (Paznaun.)


Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 75, Seite 51