Der Venediger in Nauders
Zu einem Bauern bei Nauders kam alljährlich im Juni ein Venediger, der stets die Tracht der Talbewohner trug. Die Bauersleute und ihre Kinder freuten sich immer auf seine Ankunft, denn er brachte letztern oft schöne Spielsachen mit und bezahlte während der vierzehn Tage oder drei Wochen, die er sich dort aufhielt, das Essen und was er sonst brauchte, sehr gut. Täglich mehrmals ging er zum nahen Bächlein, in welchem er ein Plederl [kleine Rinne] angebracht hatte. Den Knecht wunderte es endlich, was denn der Venediger dort zu tun habe; er schlich ihm einmal nach und sah, wie der Venediger Goldsand unter dem Plederl hervornahm und ihn an der Sonne trocknete. Da dachte sich der Knecht, das könne nichts Rechtes mehr sein und sagte es dem Bauern.
Als der Venediger das nächste Jahr wiederkam, fand er keinen Goldsand
mehr und kehrte von nun an nie mehr wieder. Nach längerer Zeit kam
der Bauer mit Viehhandeln einmal bis nach Venedig. Wie er über den
Markusplatz ging und das Gwalml [gewimmel] von Herren und Damen betrachtete,
redete ihn plötzlich ein überaus reich gekleideter Herr an und
fragte den Bauern, ob er ihn denn gar nicht mehr kenne. Vor lauter Pracht
erkannte der Bauer den Venediger nicht mehr. Letzterer gab sich nun ihm
zu erkennen, führte ihn in seinen Palast und bewirtete ihn dort fürstlich.
Bevor der Bauer schied, gab er ihm noch Spielsachen für die Kinder
mit.
Quelle: Der Venediger in Nauders, F. Dörler, Schätze und Schatzhüter in Tirol: ZfVk. 4, 1898, 234 zit. nach Will-Erich Peuckert, Ostalpensagen, Berlin 1963, Nr. 375, S. 196f