Der Bettlerstein
In alter Zeit wanderte ein Bettler von Kopfstoan (Kufstein) nach Kitzbühel. Sein Weg führte ihn durch das Sölland. Stolz und mächtig sah ihm die Burg Funkelstein entgegen. Der Bettler setzte sich, unweit von der Burg, auf einen Stein. Er konnte die Burg nicht genug betrachten und fragte sich: "Soll ich anklopfen um ein Almosen, oder nicht?" Es war gen Abend. Vor dem stolzen Tor der Burg Funkelstein der Bettler; aus seinen Lippen preßte er die Worte hervor: "Macht mir auf- ein Armer bittet um ein Stück Brot."
Der Torwart sagte: "Hier wirst du umsonst harren um ein Stück Brot. Der Burgherr ist geizig. Seine Frau schmachtet im Verließ; niemand kann sie retten - außer durch ein Wunder."
Ich will sie retten, die arme Burgfrau, dachte sich der Bettler. Zum Torwärter sagte er: "Kannst du mir Hammer und Meißel verschaffen?"
"Ich kann es." Der Torwärter brachte dem Bettler Hammer und Meißel. "Wo eine kleine Tanne aus dem Boden wächst, dort ist die Burggräfin gefangen", erklärte der Torwärter dem Bettler.
Sein Schweiß perlte tropfenweise auf den Boden. Er arbeitete unverdrossen. Der Bettler erhob sich - es war Mitternacht. Ein paarmal noch und die Burggräfin ist - erlöst. Jetzt war ein Loch; durch dieses Loch stieg die Burgfrau heraus.
"Wohin willst du gehen?"
"Fort, weit weg von diesem grausamen Manne."
"Darf ich dich begleiten?"
"Ja", sagte sie.
Über Berg und Tal ging es. Durch Wald und Felder. Ins Bayerland hinaus. Die Burgfrau wollte bei ihrem Vater-einem bayrischen Ritter- bleiben. An einer Quelle hielten die beiden flüchtige Rast. Der Bettler reichte der Gräfin Wasser. Sie trank - sie war erschöpft.
Der Bettler machte der Gräfin aus Farn und Blättern ein Ruheplätzchen. Die Burgfrau machte einen kurzen Schlaf. Während des Schlafes schlug der Bettler Haselnüsse auf und aß sie.
Als die Gräfin wieder wach wurde, schenkte ihr der Begleiter Wasser
ein.
"Ich muß sterben, ich bin schwach um mich zu erheben."
"Eher als du stirbst, werde ich Stein sein."
Kaum waren diese Worte den Lippen des Bettlers entglitten, da stand er, in Stein verwandelt, neben der Gräfin. Diese erschrak und war tot.
Am anderen Tage fanden Bauern aus der Nähe die Leiche der Gräfin und das Steingebilde. Das Volk nannte das Steingebilde den "Bettlerstein".
Nach einigen Jahrzehnten kaufte der Funkelsteiner dem Bauern den Bettlerstein ab und ließ das Gebilde im Schloßhof aufstellen.
Am dreizehnten Tage der Aufstellung fiel das Steingebilde auseinander. Ein Blitz krachte; Funkelstein fing an zu sinken.
An der Stelle, wo einst Funkelstein stand, liegt heute der Hintersteinersee.
Quelle: Anton Schipflinger in: Sonntagsblatt Unterland,
1936 Nr. 12, S. 7.
aus: Sagen, Bräuche und Geschichten aus dem Brixental und seiner
näheren Umgebung, gesammelt und niedergeschrieben vom Penningberger
Volksliteraten Anton Schipflinger, zusammengestellt von Franz Traxler,
Innsbruck 1995 (Schlern-Schriften Band 299).